Autor Thema: 2009-09-20 Berlin Marathon - wolferl42195  (Gelesen 926 mal)

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2009-09-20 Berlin Marathon - wolferl42195
« am: 20.09.2009, 00:00:00 »
Datum: 2009-09-20
Event: Berlin Marathon
Distanz: 42.195 km

Ersteller: wolferl42195

Offline wolferl42195

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2009-09-20 Berlin Marathon - wolferl42195
« Antwort #1 am: 20.09.2009, 00:00:00 »
Ein Lauf von Schwarz zu Blau

Ich gehe langsam vom Hotel zur Museumsinsel. Überall Sehenswürdigkeiten. Im Ohr Musik. Weiter geht es Unter den Linden zum Brandenburger Tor. Von links und rechts kommen immer mehr Gleichgesinnte mit weißen Säcken.  Vor dem Tor halten alle inne. Viele machen Fotos. Allein oder in der Gruppe. Das Tor wird das Ziel sein. Der Weg wird uns alle durch Berlin führen. Von Westen nach Osten wieder in den Westen und zurück. Nein. Osten und Westen gibt es nicht mehr. Es gibt keine Grenze, keine Mauer. Es ist das 20ste Jubiläum des Berlinmarathons durch Ost und West. Gerade deshalb hat das Brandenburger Tor diesen Stellenwert.

Die Massen der Gleichgesinnten werden in geordneten Bahnen geleitet. Zur rechten der Bundestag,  er wird erst nächste Woche im Zentrum stehen. Die Massen lassen sich lenken. Alles ist perfekt organisiert. Deutsche Gründlichkeit oder Routine, es ist eben bereits der 36. Berlin Marathon.

Ich lasse mich auch lenken. Gebe den weißen Sack ab und lasse mich in den Startsektor schieben.  Ich freue mich unter so vielen Gleichgesinnten zu sein. Durch den Tiergarten Richtung Sektor C. Die Bäume lassen einen ersten Blick auf die Strasse des 17 Juni zu. Der Start. Vor den Marathonläufern sind die an der Reihe, die sonst benachteiligt werden. „...nach einem Unfall beim Turnen... und Querschnittslähmung... startet er nach 5 Jahren bei einem Marathon im Rollstuhl“. Da wird mir wieder bewusst, dass man dankbar sein muss laufen zu können und dann auch noch einen Marathon.  Wieder der Lautsprecher „Achten sie auf sich, sie haben nur ein Leben. Marathons gibt es noch viele!“. Die wenigsten hören hin. Die meisten sind mit sich beschäftigt und mit den letzten Vorbereitungen. „Wir begrüßen Haile...“. Jubel, die Menge feiert den Schwarzafrikaner und seinen Herausforderer aus Kenia. Keine Frage: Haile Gebrselassie hat Berlin in den letzten Jahren in das Marathon Rampenlicht gebracht. Dieses Jahr sind 40.923 Läufer am Start. Aus 122 Nationen. (Wer schafft es 122 Länder aufzuzählen?)

Nur wenige Minuten bis zum Start. Pünktlich um 9:00 Uhr wird der 36. Berlin Marathon gestartet. Die Gleichgesinnten setzen sich in Bewegung. Richtung Siegessäule. Die einen  laufen links die anderen laufen rechts herum.  Es geht weiter auf der Strasse des 17. Juni im Tiergarten. Links und rechts Frühaufsteher, Freunde und Verwandte, die sich die Artisten im Circus Maximus ansehen. Es geht über die Spree. Hier war die Grenze. Früher. Allerdings nicht viel früher. Vor 20 Jahren fuhr hier die Grenzpolizei Patrouille. Es geht von der Rückseite zum Kanzleramt. Es sind schon etliche Leute auf der Strasse, und es werden immer mehr. Kurz berauf und dann bergab. Es ist ein Bild, das Berlin gleicht. Jeder Läufer hinterlässt einen Farbpunkt auf der Strasse und diese bunte Masse schiebt sich Meter für Meter weiter. Teilweise in Stille, teilweise unter Jubel.

Ich schaue mir die anderen an. Nein, nicht die Konkurrenz, die Gleichgesinnten. Jeder von ihnen hat eine eigene Geschichte warum er einen Marathon macht. Eine eigene Geschichte, warum er läuft. Einer, um den Weltrekord wiederholt zu brechen, ein anderer, um seinen Rekord zu brechen. Einer läuft, um zu Leben, ein andere läuft um sein Leben. Die einen schneller, die anderen langsamer. Die einen laufen davon, andere werden gejagt. Die friedliche Stimmung bewegt.

Wir kommen dem ersten Viertel des Marathons entgegen.  Jetzt sind wir im Osten. Die Grenze ist nicht mehr durch eine Mauer sichtbar, trotzdem erkennt man den fließenden Übergang von den Orten, wo mehr Geld geflossen ist zu den Orten wo das Geld noch nicht so angekommen ist.

Die Karl Marx Allee. Hier ist es merklich stiller. Trotzdem sind immer wieder Berliner auf der Strasse. Einer hat nur sein Saxophon genommen und sich auf die Strasse gestellt und gibt ebenfalls alles. So wie wir. Ein anderer hat die Trommel auf einen Elektrokasten gestellt und versucht seinen Rhythmus an uns weiterzugeben.

Die Massen laufen vorbei am Alexanderplatz. Der Funkturm erscheint und verschwindet wieder nach der nächsten Häuserfront . Vor zwanzig Jahren war die Strecke nicht auf dieser Seite der Stadt. Der Funkturm war Treffpunkt für Fans aus dem Osten um den Marathon live verfolgen zu können. Mitmachen war ausgeschlossen.

Das Kaffee Moskau auf der Karl Marx Allee 45. Es hat sicher schon bessere Zeiten erlebt. Angeblich hatte es bis zu 160 Angestellte. Wir biegen ab und laufen Richtung Kreuzberg.
Wieder über die Spree. Die Zeilen von Peter Fox haben auf einmal mehr als Symbolkraft

Guten Morgen Berlin
du kannst so häßlich sein
so dreckig und grau.
Du kannst so schön schrecklich sein
deine Nächte fressen mich auf.
Es wird für mich wohl das Beste sein
ich geh nach Hause und schlaf mich aus
Und während ich durch die Straßen laufe
wird langsam schwarz zu blau.

Wir kommen wieder in den Westen. Es wird blau. Die Stadt treibt mich weiter. Hasenheide, Südstern. Eine türkische Band macht Stimmung. Der Kopf der Gruppe klopft mit starkem Akzent ein paar Sprüche, dann geht es wieder weiter mit der türkischen Musik. Heute ist allen recht, dass Stimmung gemacht wird, hoffentlich ist es morgen auch noch so.

Die Hälfte ist fast geschafft. Nein das kann nicht sein. Das geht doch viel zu schnell. Die Uhr zeigt 10:30 und ich laufe auf den Halbmarathon zu. Die Zeit tritt in den Hintergrund die Stadt in den Vordergrund.

Einige Personen tauchen am Straßenrand  immer wieder auf. Die Kanzlerin und ihr Gegenspieler. Frau Merkel lächelt wieder. Aber insgesamt sind die beiden und das bisschen gelb nicht aufdringlich. Da fällt mir ein Berlin ist doch grün, die haben mir gar nicht von einem Plakat entgegen gelacht.

Ich beginne wieder die Läufer links und rechts von mir anzusehen. Keiner gleicht dem anderen. Einige nutzen den Marathon und ihr Shirt um eine Message zu transportieren.  Ein Schweizer macht Werbung für einen Erotik Shop. Ein anderer will die Traumgrenze unterbieten „Projekt 2:99 Hauptsache unter 2 Stunden“. Die Zeit ist immer ein Faktor beim Marathon. In diesen Minuten wird am Tiergarten das Duell an der Spitze entschieden. Ich sehe ein violettes Shirt. Sie wollte doch unter drei Stunden laufen. Auch sie wird langsamer. Fast alle werden langsamer.  Die Stadt hat Fieber wie es Peter Fox beschrieben hat. Seine Zeilen passen auch auf den Marathon:
Meine Stadt hat Fieber, sie tropft und klebt.

Wir haben schwere Glieder, der Kopf tut weh.

Wir sind wie ’n alter Hund der grad noch steht.
Wir ham’s verzockt, verbockt, der Doktor kommt zu spät!


Wir wechseln ein paar Worte und laufen ein Stück das gleiche Tempo. Fast wortlos. Der Energiesparmodus ist bereits an. Unter tausenden von Läufern ist es interessant, dass man zu manchen schneller findet weil es Gemeinsamkeiten gibt. Das gleiche Land. Das gleiche Team. Auch in der Masse ist man so nicht alleine. Viele zeigen, aus welchem Land sie kommen. Italiener, Dänen, Spanier, man könnte meinen es ist der Marathon Europas.

Wir kommen wieder unter einer Bücke hindurch. Eine Sambagruppe macht Stimmung. Es müssen 15 vielleicht sogar 20 Trommler sein. Ich glaube wer hier vorbeiläuft macht unbewusst einen Sambaschritt. Der Funke springt über und gibt uns wieder Energie.  

Der kritische Bereich des Marathons ist da. Kilometer 32 und mehr. Die Beine sagen nein, der Kopf sagt „kommt nicht in Frage“. Wie ein Drahtseil sind die Muskeln in meinen Wanden gespannt. Die Spannung nimmt mit jedem Schritt zu als würde man eine Gitarre stimmen. Ich werde langsamer. Laufe wieder allein.

Ich versuche mich auf die Stadt zu konzentrieren. Versuche die Stimmung aufzusaugen.  Ich sage mir „Langsamer laufen heißt Berlin länger genießen!“.  Obwohl die Drahtseile immer mehr gespannt werden nehme ich was Berlin hergibt. Kurfürstendamm – noch mehr Menschen die dich Meter für Meter weitergeben. Potsdamer Platz. Hier hab ich wieder das Bild vor Augen. Von der Mauer, die ich mir kaum vorstellen kann, die hier verlaufen sein muss. Kein Sony Center, kein Daimler Building. Die Straßenbahn schienen endeten in der Mauer.

Es ist nicht mehr weit. Gendarmenmarkt. Ein Mann mit Kinderwagen überholt mich. Auf dem Rücken trägt er einen Zettel „16. Teilnahme am Berlin Marathon“. Ich verneige mich innerlich. Sich mindestens 16 Jahre fit zu halten und ein Marathon-Niveau zu haben ist eine Leistung. Seine Tochter auch noch 42 Kilometer zu schieben eine noch größere.  

Die letzte Kurve. Ich biege ein auf die Prachtstraße Unter den Linden. Die Stimmung geht dem Höhepunkt zu. Mensch auf beiden Seiten jubeln uns zu. Es geht auf das Brandenburger Tor zu. Ich bin fast versucht stehen zu bleiben. Das Ziel in den Augen laufe ich durch das Brandenburger Tor und tauche in den Zielkanal ein. Die Menge trägt mich ins Ziel. Ich sehe die Zeit und denke mir, dass die Zeit heute nicht wichtig ist. Ich habe eine Stadt kennen und lieben gelernt. Ich werde wieder kommen. Vielleicht nicht zum Marathon, vielleicht schon. Auf jeden Fall kenne ich dann Berlin und kann mich auf meinen Lauf konzentrieren.

Ich werde wieder gelenkt. Wir werden wieder gelenkt. Zielfoto oder besser Siegerfoto. Es geht wieder zu den Zelten, ganz langsam.  Es gibt Wasser und Bananen. Noch ein Zielfoto. Ich schaffe es zu meinem Zelt und geh zum Shop, um mir ein Finisher Shirt zu kaufen. Das Shirt wird mich an die Stadt erinnern und an den Marathon.

Ich nehme eine Rikscha zum Hotel. Dem Fahrer hab ich diese Geschichte als erstes erzählt...
Ausdauer wird früher oder später belohnt - meistens aber später. (Wilhelm Busch)

Offline cbendl

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2009-09-20 Berlin Marathon - wolferl42195
« Antwort #2 am: 23.09.2009, 13:19:49 »
Ein sehr schöner Bericht. Bei deinem Hinweis auf Rollstuhlfahrer und Handbiker fällt mir wieder ein, wie gut die Berlin Marathon Übertragung gemacht ist (zumindest 2007 und 2008). Nicht nur der Marathon insgesamt wird gut rübergebracht, eine interessante und sympathische Mischung aus Sport und Drumherum, sondern auch die Übertragung des Rollstuhl- und Handbikemarathons wird wirklich spannend vermittelt, seit ich das gesehen habe, wurde auch dieser Sport für mich sehr greifbar. Auch heuer wieder hatte diese Sparte bereits ihren Platz im Programmheft, mit einem interessanten Artikel zu den Problemen des Handbike-Reglements. Ein wohltuender Kontrast zur Medianarbeit rund um den VCM (zumindest meiner Meinung nach).
Den Läufer (oder einen Teamkollegen) mit Projekt "2:99" habe ich voriges Jahr übrigens auch gesehen und überolt, er war wohl auf ca. 2:75 unterwegs - und hat mich zum Lächeln gebracht und mir bei den 2:58 geholfen. Jedenfalls ein genialer Spruch, das sollte man sich für eventuelle Geschenke an Läufer merken :)
hippocampus abdominalis

Offline chribi

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2009-09-20 Berlin Marathon - wolferl42195
« Antwort #3 am: 23.09.2009, 14:12:04 »
toller bericht, danke. ich glaub ich werd mich im nächsten jahr wieder nach berlin aufmachen, wäre dann mei 9. in berlin

Offline boenald

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« Antwort #4 am: 24.09.2009, 09:20:45 »
"Die Zeit ist immer ein Faktor beim Marathon" - bemerkenswert, wie wenig sich dein Bericht davon anstecken hat lassen. Sehr schöner Bericht! Obwohl ich nämlich eher zur Fraktion der Berlin-Skeptiker gehöre und den Hype um diese Stadt noch nie so recht kapiert hab, bekomme ich nach deiner läuferischen Stadtbesichtigungstour erstmals einen Eindruck davon, was den Reiz von Berlin ausmachen könnte. Und abgesehen davon, auch wenn du´s hier elegant verschweigst: gratuliere zur Spitzenzeit :)
Paragraph eins: jedem sein´s.

Offline heitzko

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« Antwort #5 am: 25.09.2009, 19:52:22 »
wow das ist vielleicht ein schöner bericht! das verleiht dem "touristisch marathonlaufen" ganz neue akzente :) spitzenzeiten erkämpfen hin oder her, einen marathon so mitzuerleben ist - finde ich - mehr wert als jede bestzeit. danke für den schönen bericht!

Offline Ulrich

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2009-09-20 Berlin Marathon - wolferl42195
« Antwort #6 am: 25.09.2009, 20:10:56 »
Marathonlaufen ist Sport, Berichte schreiben, solche Berichte schreiben eine Kunst. Gratuliere zu beidem! Du hast einen Marathon in einer charmanten Stadt in einem ebensolchen Bericht verewigt!

Weil 42 die Antwort ist und 130 der Sinn

Offline KITTY

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2009-09-20 Berlin Marathon - wolferl42195
« Antwort #7 am: 27.09.2009, 11:11:10 »
Wirklich ein genialer Bericht. Danke.
lg
peter

Offline JM

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2009-09-20 Berlin Marathon - wolferl42195
« Antwort #8 am: 27.09.2009, 20:10:48 »
Sehr sehr schöner Bericht, habe Peter Fox "laufen" lassen beim lesen :)
Und jetzt zähle ich Länder auf: österreich, Luxemburg, ähm.... wirklich 122 ? ;)
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