Autor Thema: 2010-06-11 Bieler Lauftage - Ulrich  (Gelesen 1553 mal)

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2010-06-11 Bieler Lauftage - Ulrich
« am: 11.06.2010, 00:00:00 »
Datum: 2010-06-11
Event: Bieler Lauftage
Distanz: 100.000 km

Ersteller: Ulrich

Offline Ulrich

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2010-06-11 Bieler Lauftage - Ulrich
« Antwort #1 am: 11.06.2010, 00:00:00 »
Was für eine Nacht oder  und dieser Tag ist heute



Es war einmal vor langer, langer Zeit, ich war verlobt und meine Anzutrauende unterbreitete mir einen irren Vorschlag. Laufen wir in der Nacht 100 KM?
Nun, was sollte ich ihr abschlagen, schließlich wollte ich sie heiraten. Als sie mir dann später erzählte, dass die Idee eigentlich von einem anderen stammte, nun, ich hatte schon ja gesagt.
An dieser Stelle ein herzliches Danke an Rainer „rrnch“
Nun, was hatte sie gemeint, einen völlig hirnrissigen Lauf in der französischen Schweiz, den nur die Seltsamen vom Hörensagen und die Irren aus eigener Erfahrung kennen. Sogar ein Buch würde in Sammlerkreisen und Unibibliotheken (wohl auf der Psychiatrie) kursieren. „irgendwann musst Du nach BIEL“

Mir war relativ bald klar, dass Biel für mich der Prüfstein meiner Lauferei wäre. 100 Km, die Veitsch und danach noch einen Marathon anhängen, Linz, Salzburg gleich drauf und dann noch, weil´s so witzig ist, noch einen kleinen Halben drauf.
Das war Biel in meinem Kopf. Das nun wirklich nicht mögliche, der, wofür man nicht trainieren konnte. Marathons, die Veitsch meinetwegen dafür kann man trainieren. Biel, hier braucht man ein wenig Selbstüberschätzung, Irrsinn und Lust. Lust, das Unmögliche zu wollen.
Nun, an allen genannten Eigenschaften mangelt es mir ja nicht gerade, daher war mir klar, es wäre das größte Abenteuer seit meinem ersten Marathon 95,  den ich ja ohne Lauftraining in Angriff genommen hatte. Ich bin zweifelhaft ein lausiger Marathonläufer, habe auf den bisher gelaufenen Ultras jedes mal glorreich meine Zielvorgaben um Stunden versemmelt, nun sagen wir einmal ich bin ein Läufer, einer, der einfach gern herum rennt und seine Hetz hat.

In meinem Job habe ich auch oft Gelegenheit, mich mit meinen Kolleginnen, ausgebildete Beraterinnen zu unterhalten. Eine von Ihnen hinterfragte einmal kürzlich meine Motivation, in Biel zu laufen. Ich suche meine Grenzen, ich will meine läuferischen Limits entdecken. Ohne Möglichkeit, in jeder Runde auszusteigen, einfach losrennen und nur im Verletzungsfall Unterschlupf in den Stationen der Samariter zu finden. Ich wollte meine Grenze finden.
Meine Kollegin antwortete drauf: Wenn Du also durchkommst, hast du eigentlich Dein Ziel verfehlt. Hmmmmm..... witzige Idee. Ich könnte also mein Ziel nur erreichen, wenn mich der GAU, die Aufgabe ereilen würde. Was nun?

Aufgeben? Nun ausschließen werde ich es nie, aber bitte nicht im jeweils aktuellen Fall.

Die Tage gingen vorbei, wir heirateten, und sogar bei unserer Hochzeit sprach der Pfarrer zu unserer Verwunderung den 100km Lauf an. Scheinbar hat ihn die Idee irgendwie begeistert.
Die 2 Wochen vor dem Lauf gestalteten sich zur Nervenprobe. Heidi fand im Tagesrhythmus schlechte und ganz miese Wetterprognosen. In den schlechten war von gelegentlichen Gewittern die Rede, in den ganz miesen konnten wir von durchgehendem Starkregen lesen. Wow, das besserte meine Stimmung gegen Null. Ich ersuchte meine Holde schlussendlich, die Wetterprognosen für sich zu behalten. Leider klappte dies nur für einen Tag, bereits am Tag danach war von ein wenig Hoffnung, dann wieder von Dauerregen die Rede. Regen, der begleitete uns ja wie ein nasser Fetzen (will sagen, wie ein roter Faden) durch unsere Vorbereitung. Linzmarathon: Regen, Salzburg, Regen, im letzten spannenden Vorbereitungslauf (von 4:30 – 6:30 auf der Insel) schüttete es in Strömen, sodass ich die Erfahrung machen durfte: Meine Regenjacke ist nicht wasserdicht :(
Ich konnte dieses Sauwetter nicht mehr sehen, und jetzt stand es sogar unmittelbar in der extended Version vor uns. All die schlauen Meterolügen hatten es prophezeit, zumindest irgendwo war immer von Regen und Gewitter zu lesen.
Aus dem Forum erfuhren wir Hilfreiches:
Biel rennst Du aus dem Kopf, Training ist Nebensache. Juhuuuu ich brauchte also nicht voll trainieren. Paßt.
Nun, irgendwann dann kam der Tag der Tage immer näher, wir packten und verließen zeitig in der Früh unsere Wohnung. Aufstehen um 5:10, Start zu einem 100 KM Rennen an gleichen Tag um 22:00. Dazwischen lagen ca 10 Stunden Zugsfahrt in die französische Schweiz. Lange hätten wir also Zeit gehabt, um uns eine Art Zeitziel zu schustern. Heidi hatte jedoch bereits recherchiert und legte uns, trotz meines verzweifelten Widerstandes auf 15 Stunden fest.
Zur Wiederholung fünfzehn Stunden Laufen, durch die ganze Nacht, bis in den frühen Nachmittag es folgenden Tages.
Klang irgendwie logisch. Meine beste Veitschzeit mal 2 zuzüglich der Ulrich-Stunde. Diese kann ich aus den gemachten Erfahrungen bei Ultras immer auf alle erhofften Zielzeiten draufschlagen, dann paßt es halbwegs. Also quasi eine Ewigkeit und noch ein bisserl was.
Aber hallo, was kümmert mich die Zeit, es gilt einhundert Kilometer zu bewältigen, zu laufen, gehen kriechen. Dieser Gedanke alleine schon läßt mich zittern. 100 Km!!

So unglaublich viele Ängste und Sorgen gehen in meinem Kopf herum... Was wird die Verdauung machen, da erzählen ja die Trias immer Schauergeschichten. Gerade ich, der doch so viel Schlaf braucht, wie soll ich das dann schaffen, wenn wir um 5 aufstehen, dann um 22 Uhr weglaufen und erst gegen 14 Uhr ins Ziel kommen? Soll ich schlafen währenddessen?
Was machen wir, wenn der angesagte Regen wirklich kommen sollte? Kann man überhaupt 100KM im Regen laufen? Welche Kleidung hält das aus?
Wie kann ich denn genügend essen? Gerüchte von 8-10.000 kcal schwirren herum.
Freilich das meiste kommt vom Fett, also muß ich nur ca 2000 kcal wirklich essen.. eh nur … NUR 2000 kcal ? Soll ich denn eine Pizza essen?

Dann war da noch die Frage nach der besten Laufkleidung. Es hat sich klar herauskristallisiert, dass ich jedenfalls mit einer Tight laufen werde, nachdem ich mich in den letzten Wochen öfter aufgerieben hatte, Heidi schenkte mir ihre, die mir praktischerweise genau passte. Sehr gut. Und dann kam das Wochenende in Wolfsberg, eine Woche vor dem größten Lauf meines Lebens vergesse ich eine der wichtigsten Grunzregeln und kaufe beim Intersport eine Salomon Kompressions-Tight. Eine relativ sauteure zwar, aber sie vermittelt das Gefühl, leichte Beine zu haben.
Die schnürt die Haxen ein, schränkt ein wenig ein, aber irgendwie glaube ich an die Hose.
 Zweimal trage ich sie vorher und verfluche meine Blödheit. Die Hose ermöglicht keinen zügigen Schritt, verhindert die Leichtigkeit des Laufens und überhaupt.

Einpacken kann ich sie ja auf jeden Fall. Nein, besser ich ziehe sie einfach im Zug an. So behalte ich leichte Beine.
Ok, wir stehen also um 5 auf, gehen um 6:30 zum Bahnhof und dösen Richtung Schweiz. Dösen und düsen. Wir wollen so wenig Energie verschwenden, so oft wie möglich auch schlafen.
Währenddessen schmausen wir Milchreis, den Heidi am Vortrag noch gemacht hat.

In Zürich angekommen, viele Stunden sind vergangen, suchen wir den richtigen Bahnsteig, vor uns ein blonder Hühne, der offensichtlich auch Richtung Biel will. Er hat einen Schritt, der wohl auch im normalen Gehen einen 5er Schnitt ermöglicht. Wir freunden uns an und plaudern die ganze Fahrt hindurch mit Matthias. Er erzählt von 100km Wanderungen und 42km selbstvermessenen Läufen mit Rucksack. Mit ihm machen wir uns auf ins Start/Zielgelände, holen unsere Startunterlagen ab.
Dann stellen wir langsam unser neues Zelt auf, unser Hoferzelt. Es geht ja recht flott, doch am Ende müssen wir lachen. Das Zelt ist für uns beide schon ziemlich klein, all unsere Kleidung paßt kaum rein.
Die Zeit geht vorbei....
Wir geben auch einen Kleidersack ab, aus welchem wir bei KM 57 (also quasi nach der Veitsch) noch andere Schuhe, Socken oder anderes nehmen können.
Ich liege dann im Zelt, alleine, Heidi ist grad draußen, und bekomme plötzlich große Angst. Was, wenn ich aufgeben muß? Wenn ich zum ersten Mal überhaupt aufgebe, und dann in weiterer Folge einen anderen Lauf auch, dann habe ich verloren. Und es sind doch unmögliche 100 KM!
Wurscht. Angst ist möglich, Panik ist OK.  Jetzt aber zieh Dich an, mach dich fertig und dann laufen wir einmal in BIEL.

Wir plaudern, ich behänge mich wie ein Christbaum mit Regenjacke, Müllsack, Handy, WC-Papier und Gels. Meine Stirnlampe habe ich auch dabei. GEMMA
Unmittelbar am Weg zum Start unterhalte ich mich noch mit einem anderen Starter. Er begleitet seine Freundin und bietet mir Ausblicke auf eine wundervolle Strecke, ein tolles Feeling bei km 50 bzw Sonnenaufgang und einen Einbruch bei KM 80.

Im Startbereich herrscht unglaubliche Stimmung. Ein einziges Fest. Wir treffen den Autor des Kultbuches „irgendwann mußt Du nach Biel“ Werner und unterhalten uns. Er ist über 80 und läuft heute wieder.
Alle sind gespannt und freuen sich.
Startschuss
Startschuss für einhunderttausend Meter
Die Straßen in Biel sind gesäumt von Menschen, die uns begeistert zujubeln, es ist 22 Uhr. Und wir laufen, wir traben im 7er Schnitt durch die Stadt. Eine unglaubliche Begeisterung, eine Stimmung, die wirklich ihres Gleichen sucht. Kein anderer Lauf kann hier annähernd mit, vielleicht, aber auch nur vielleicht hält der Berlin Marathon mit. Doch das ist Geschmacksache.
Im Licht der Neonstöcke und Straßenlampen geht’s die ersten 5 Kilometer durch Biel. Dann bald die erste Anhöhe, der erste Anstieg. Heidi hat mir eingebläut, wir müssen die Anstiege rauf gehen. Gut, gehen wir halt. Andere gehen auch, kaum wird gelaufen.  An den Gartenzäunen stehen unglaublich viele Menschen und lachen, feuern uns an. Die Stimmung ist sensationell.
Wir plaudern und freuen uns des Weges. Irgendwann einmal zweigen wir dann in einen Waldweg ab, hier gibt’s dann kein Licht mehr, hier schalte ich zum ersten Mal meine Stirnlampe ein. Tadellos, das Licht reicht für sicher 5 andere, die sich somit ihre Batterien sparen ;) Ich spiele also den Luster. Ach, soll sein.
Wir kommen irgendwann einmal zur 2. Labestation. Hier gibt’s Iso, Wasser, Tee, Bananen und noch einiges.. ich frage „ist das Tee“, bekomme ein „ja“ zurück.
Der erste Schluck endet in einer ungläubigen Überraschung. Das ist ja salzig. Ich spucke sofort wieder aus. Der Mann an der Labe schaut mich entsetzt an.
Es war die für Biel berühmte Gemüsebouillon :D
Nach ungefähr einer Stunde überholen uns irgendwann einmal die ersten flotten Halb- und Marathonläufer, die teils ohne Stirnlampe in die Nacht hinein laufen. Hinein Rasen, sie schreien und  den Weg frei zu bekommen und rasen über die Feldwege.
Schaut toll aus.

Eine Stunde voller Staub und Felder folgt, mit meiner Lampe kann ich mir ein ungefähres Bild von der Umgebung machen, muss nett aussehen hier.
Runter versuche ich, den bewährten Stefan-Stil zu üben, erziele dabei erstaunliche Ergebnisse Heidi kommt nach auch sie hat den Stil übernommen.
Wie lange laufen wir eigentlich gemeinsam? Nichts fixes ist ausgemacht, mal schauen.
Wir tun uns schwer, einen Kilometerschnitt zuerrechnen, so unregelmäßig sind unsere Zeiten, aber auch so egal ist es.
Bei einem Bergaufstück plötzlich werde ich sehr müde. Es ist ungefähr halb eins, ich gähne erst in mich rein, dann völlig ungeniert offen. Kurz mache ich sogar unterm Gehen die Augen zu. So geht’s ja auch nicht. Das minimiert ja meine Motivation. Heidi rät mir, ich möge bei der kommenden Labestation mit Cola gegen meine Müdigkeit kämpfen. Ein genialer Tip, ich bin fortan nicht mehr müde, nicht mehr bis zum bitteren Ende. Wir laufen durch viele Ortschaften, Sehen im Schein der Stirnlampe wunderschöne Bauernhöfe.
Beim Ziel des HM, herrscht wieder Volksfeststimmung, wir werden Zeuge eines spannenden Sprints. Weiter geht’s. Langsam merke ich in weiterer Folge, dass mein rechter Oberschenkel bzw meine Hüfte und der Hintern ein wenig beleidigt sein dürften. Gleich erzähle ich es Heidi, die mir aus ihrem Erfahrungsschatz gleich vorschlägt, zu überlegen, ob es nicht aufgrund der neuen Hose sein könnte. Diese könnte eine Druckstelle ausüben, die ausstrahlt. Nun, genau das ist es auch.
Weiter. Durch die dunkle, aber netterweise sehr laue Nacht. Ich schalte kurz einmal meinen MP3 Spieler ein, höre das genau passende Lied, beginnend  mit den Worten „WAS FÜR EINE NACHT“
Bisher haben wir ca 25- 30 KM geschafft. Aber ich bin langsam überzeugt, dass wir es schaffen können. Dass wir einhundert Kilometer laufen können.
Gänsehaut.
Heidi lächelt auch, wir sind guter Dinge.
Beim Marathon, irgendwo in einem kleinen Dorf, so in etwa nach 5 Stunden findet der Zieleinlauf der Marathonis statt. Ehrlich gesagt, wenn man´s nicht gewußt hätte, hätte man gedacht, das ist ein Regendach. Der kleinste Marathonzieleinlauf, den ich jemals gesehen habe. Aber heute dreht es sich halt nicht um den Marathon, nicht um die „Unterdistanz“ :D
Nun, sind wir Ultras, wir laufen nun schon weiter als üblich. Und alles geht gut, keine nennenswerten Vorkommnisse, ich traben dahin. Ich fange langsam an, mich über meine Hose zu freuen, sie ist der bestmögliche Kauf gewesen.
Nun, langsam wär´s nett, wenn nicht nur ich immer Licht für alle machen müsste, andererseits reicht meine Lampe halt völlig aus. Warum denn nicht.
Ich freue mich, dass ich mich gut fühle. Wir freuen uns auf die Morgendämmerung, die unserer Schätzung zufolge gegen 4 Uhr einsetzen sollte. Selbst jetzt, selbst gegen 4 Uhr früh werden wir beklatscht. Freilich, die Burschen an der Strecke lallen ein wenig, aber.. ich denke, sie sind zumindest so frisch wie wir. Also, passt schon
Weit gefehlt, gegen halb 5 deutet sich erst ein zarter hellschwarzer Schimmer am Horizont an. Wir sind nun schon 6:30 unterwegs. Es ist soooo genial, denn, eigentlich sind keine wirklichen Probleme zu merken. Klar, die Oberschenkel ziehen, Heidi hat zwei schmerzende Blasen. Aber sie ist ungemein tapfer und zäh. Bei KM 57 kommt nun endlich die lange erwartete Wechselstation. Hier könnte man aufgeben, kann sich umziehen und massieren lassen. Wir nutzen 2 dieser Angebote, Heidi nimmt andere Schuhe, läßt sich massieren, ich bin mit meinen Tretern sehr happy und lasse nur meine Beine durchkneten. Mah, es ist sooo geil, meine Stimmung schwebt knapp unter der Decke. Ich ziehe auch kurz einen Schuh aus, da ich mir scheinbar einen Stein eingefangen habe. Dummerweise schmerzt mich dann dieser Fuß die nächsten ca 35 km ein wenig. Ergo: niemals unnötigerweise die Schuhe im Wettkampf öffnen/ausziehen. Ein wenig mache ich mir Sorgen um Heidi, denn sie schaut nicht ganz glücklich drein. Aber ich weiß, sie ist zäh.
Auf zum Emmendamm, auch unter Ho-chi-mihn Pfad. Angeblich das Herzstück, das Highlight der Strecke. Die gute Nachricht zum beginnenden Tag vorweg, es wird wieder hell.
Nur noch 43 Kilometer.
Nur noch ein Marathon.

Wir betreten den HoChiMihn Pfad, nun, ich hab mir schlimmeres erwartet. Ein Wiesenweg, vergleichbar mit Wegen am Cobenzl. Ich trotte vor mich hin, Heidi hinter mir, sie wird von einem anderen Läufer verfolgt. Nun, ich trete einmal kurz aus, sie läuft weiter. Ehrlich gesagt wollte ich auch einmal versuchen, ob ich ein wenig schneller rennen kann, grundelt mein Puls doch nun seit ca 7 Stunden bei ca 135 herum. Keine Chance auf Pulserhöhung.
Spielend schaffe ich den Tempowechsel. Kurz überlege ich... Soll ich nun schneller rennen? Es könnte klappen. Dann aber siegt der Gedanke an die Treue und an die damit verbundene Laufqualität. Bisher sind wir nicht schlecht im Plan, außerdem fühle ich mich gut und bin auf völligem Neuland. Ich mache, was mir mein Gefühl sagt, und bleibe bei Heidi
Der kurze Tempowechsel macht Spaß.
Und weiter.... wir versuchen, nicht zu stolpern, zur großen Überraschung schaffen wir es auch. Ich muss die eine oder andere Gehpause einlegen, doch verringert sich dadurch unser Tempo nicht wirklich. Alles ok, das wird wieder. Sind ja nur noch ca 38 km.
Eh nur.

Ungefähr bei km 65 starte ich ein völlig neues Experiment, ich bin noch nie mit MP3 bei einem Wettkampf gelaufen. Ich nehme das Ergebnis vorweg, ein Durchschlagender Erfolg!
Ab diesem Moment mußte ich von mir aus kein einziges Mal mehr gehen, konnte locker dahintraben, freute mich über Lieder der Dire Straits, Rocky Horror Show, Men at Work und ähnliches. Es war fantastisch. Um Heidi hören zu können hatte ich erst nur einen Ohrhörer, später fragte ich, ob es auch ok wäre, wenn ich beide nähme. Klar die Vögel hörte ich nicht mehr, aber meine Laune war jenseits aller Wolken. Ziemlich genau hier startete das Längste und absolut geilste Runners High meines Lebens, es sollte 40 km, also knappe 5 Stunden anhalten. Teilweise heulte ich vor Freude, ich lachte und war einfach nur dermaßen glücklich, dass ich auch heute noch, am Tag nach dem Lauf, eine Gänsehaut bekomme.
Wir können unser Tempo sehr gut beibehalten, steuern auf eine Zeit von ca 13 Stunden hin, was angesichts unserer Zielvorgaben unerreichbar schien Wir waren bald 70 km gelaufen, alle Organe, Gelenke und sonstigen Bestandteile schreien im Chor... GEIL!!!! (naja mit Ausnahme vielleicht meines rechten Fußes, aber der war auch ziemlich brav. Die Gemüsesuppe schmeckt auch wieder, jede Labestelle wird genutzt und auf den Bergabstücken können wir es richtig rollen lassen, ein unvorstellbarer Lauf hat begonnen. Lachen, Freuen und Genießen. Der Rhythmus der Schritte, es fällt einfach so leicht. Die Boullion schmeckt auch immer besser, ich schütte Iso und Cola in mich rein, plaudere mit den Leuten an der Strecke.

Darf Biel einfach sein? Darf Biel solchen Spaß machen?
Wir überholen so viele andere, einen nach dem anderen schlucken wir, dass es eine Freude ist. Mir ist schon klar, dass ich meine Laune nicht zwingend auch auf Heidi übertragen kann, doch hält sie bewundernswert gut mit. Wenn ich frage, wie es ihr geht, so meint sie nur manchmal, ein wenig muskulär bedient zu sein, doch im Großen und Ganzen.... Wir sollten unsere eigene Vorgabe weit, um Stunden unterbieten zu können. WIR SIND BIEL
zwischen km 70 und 75, eine weite Landstraße leicht ansteigend, plötzlich rast an uns ein Auto vorbei, scheinbar hat ihn die Absperrung an der Straße nicht interessiert. Nun, das war auch schon wieder die Aufregung.
Wieder eine kleine Steigung, wir trippeln hinauf, oben dann ein steiles Gefälle. Hier heißt es, einerseits sehr ökonomisch runter zu fallen, andererseits doch auch die nun doch schon leicht angeschlagenen Oberschenkel zu schonen. Geht doch ganz gut. Auch Heidi ist eine Meisterin des Berablaufes geworden. SOOOOOO GEIL HEUTE!
Bei km 80 haben wir noch einen sehr großen Zeitpolster sogar auf 13 Stunden. Doch immerhin ist es nun noch ein halber Marathon, und wir haben schon durchaus gut „aufgewärmt“. Immer noch kann was passieren. Nicht übermütig werden. Auch wenn der Puls sich scheinbar gar nicht bewegt. Immer noch pickt er – richtig langweilig – bei 133 fest. Seit ca 10 Stunden.
Jaja, ich hab keine Grundlage :D
Bis Km 90 laufen wir an einem wundervollen See vorbei, Heidi fällt es ein wenig schwerer, unser Tempo zu halten, doch immerhin laufen wir immer noch. All die anderen, mit ihren K 78, Rennsteiglauf-Leiberl überholen wir ohne Probleme, denn sie gehen. Walk of Life, der Lauf meines Lebens. Die Dire Straits spielen die perfekte Filmmusik zu meinem perfekten Lauf.
Bald kommen wir wieder an eine Labe, nur noch 15, nur noch 10 Kilometer. 90 haben wir schon. Mein Gott, wir sind schon neunzig Kilometer gelaufen. Und es macht Spaß, es ist schön, es tut nicht weh. Ich fange an zu weinen, höre gleich wieder damit auf, denn... nun, ich genieße lieber den Lauf. Heidi gibt mir zu verstehen, dass bei ihr der Faden zu reißen droht, die muskulären Probleme scheinen zu lästig zu werden. Gut, gehen wir halt.
Ich versuche, meinen Übermut zu bremsen, was mir schwer fällt, innerlich möchte ich den Endspurt meines Lebens ansetzen, möchte nun in einem 10 Kilometer Endspurt alles zerreißen. Es wäre möglich, ich weiß es. Doch was wäre dann im Ziel? Soll ich dann im Ziel alleine sein? Soll ich in Biel alleine ankommen? Ich werde meine Traumfrau nicht alleine lassen, außerdem hat sie mir so unglaublich viel geholfen heute. Als ich fast eingeschlafen wäre, als ich meine Schmerzen hatte und überhaupt jeden Tag seit dem 13.12.2005. Klar, es wär schon lustig, jetzt zu rennen, aber ich bleib da. Wir gehen ein wenig, sie scheint meine Ungeduld zu merken. Schlägt vor, ich möge alleine laufen. Ich verneine, bin dabei emotional und fast ungeduldig. Unfair ihr gegenüber. Als sie meint, die 13 Stunden würden wir nicht schaffen, weshalb wir eh schon gehen können, werde ich grantig. Das ist keine Einstellung, solange wir noch irgendwie laufen können, schulden wir es uns, schulden wir es Biel, dass wir es machen. Bei KM 94 eine Steigung, die letzte. Wir gehen, ich schiebe Heidi ein wenig, wir überholen wieder.
WOW, wir werden es wirklich schaffen. Mit all diesen Lauf-Urgesteinen gemeinsam  sind Heidi und ich dann die 100 KM von Biel gelaufen. Das hat was.
Ich versuche Heidi zu ein paar Laufschritten zu bewegen, es klappt, wir trippeln weiter. Ich bin stolz auf sie. Bei km 95 kommt es dann wieder zur Diskussion, ich will sie anfeuern, mein Schatz meint nur: „ich halts nicht mehr aus, jetzt lauf endlich!“ wortlos, ein wenig wütend renne ich weg, die EB meines Lebens. Ich habe den Eindruck über endlose Energie zu verfügen. Renne nicht mehr 7:20 sondern geschätzte 4:50. Ich bin traurig, grantig wütend und auch glücklich, das erleben zu dürfen. So viele andere überhole ich im Flug, die gehen, ich laufe an ihnen vorbei, als wäre es ein Spaß, als wäre ich der Läufer, sie die Wanderer. Nur noch 4 km, 3, 2. Was mache ich hier eigentlich?
Was soll ich alleine im Ziel machen? Soll ich denn wirklich? Außerdem hat Heidis Chip öfter scheinbar nicht ausgelöst. Sie braucht mich dann vielleicht für ein Zielfoto. Ich will ein Zielfoto mit ihr, ich will nicht alleine ins Ziel, nicht ohne sie den Lauf meines Lebens finishen. Noch ca 1300 Meter, unter einer Brücke durch, ich überhole weiterhin. Ich fliege, ich sehe das Schild des letzten KM vor mir, einen hole ich mir noch. Ich vermisse sie.
Bei KM 99 drehe ich um. Ich gehe, laufe ihr entgegen.
Entgeistert schauen mich die anderen an. Was ich da mache? Ich laufe nicht ohne meine Frau ins Ziel. Ich warte auf meine Frau.
Der Streckenposten will nicht glauben, dass ich so knapp vor dem Ziel zurück laufe, doch er läßt mich über die Strasse drüber. Ungläubiges Staunen, Kopfschütteln. Aber ich bin glücklich. Ich werde sie wieder sehen und dann gemeinsam mit Heidi in Biel einlaufen. Das schulde ich uns einfach.
Viele kommen mir entgegen. Habe ich die alle überholt? Scheinbar.
Von einem erfahre ich, dass Heidi in die Büsche abgebogen ist. Gleich dahinter sehe ich sie. Nicht ohne Dich!
Wir gehen Richtung Ziel, wir gehen Richtung Biel. Ein paar Laufschritte wieder. Es geht, es ist möglich, wir werden einhundert Kilometer laufen. (hey ich sogar ca 103 :D )und das gemeinsam finishen. Wir sind zwar keine guten Läufer, aber wir laufen in BIEL ein! So unglaublich. Dieser Triumph! Noch eine Kurve, dann eine Gerade. An unserem Zelt vorbei, wir werden angefeuert. Ich liebe unser Leben, ich liebe Laufen und ich liebe meine Frau. Ich bin Biel, ich habe es geschafft. Irgendwann mußt Du nach Biel, Dieser Tag ich heute! Wir halten uns an der Hand. Werden vom Zielsprecher begrüßt. Nur noch wenige Meter. Es ist unbegreiflich. Wir laufen ein. Wir haben es geschafft! BIEL der Lauf der Läufe, der Lauf der Irren, der Lauf der Läufe. Hand in Hand mit meiner Frau.

JAWOHL!

Unsere Endzeit 13 Stunden 20 Minuten. Abzüglich unserer Massagezeit bleiben wir dennoch unter 13 Stunden. Was einen Temposchnitt von ca 7:40 bedeutet. Mein Pulsschnitt liegt bei 129.
Wie sagte einer, der es wissen muß: Biel ist nur für Narrische.
Stimmt.

Daher mußten wir dort laufen. Daher sind wir Biel.

Für alle die Google Earth haben: http://www.99km.ch/07-2.html


Weil 42 die Antwort ist und 130 der Sinn

Offline karinr

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2010-06-11 Bieler Lauftage - Ulrich
« Antwort #2 am: 13.06.2010, 20:57:23 »
Sehr bewegender Bericht. Gratuliere euch zwei. Ich bewundere Euer Durchhaltevermögen und die Gabe solch einen Bericht verfassen zu können :-)
Laufen bedeutet für mich: Freiheit zu spüren, Gelassenheit zu erleben

Offline uschi61

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2010-06-11 Bieler Lauftage - Ulrich
« Antwort #3 am: 13.06.2010, 21:02:19 »
Wahnsinnsbericht und Wahnsinnsleistung!!! Gänsehautfeeling pur! Gratulation euch beiden! Und gute Regeneration!
Lebe deine Träume!

Offline cbendl

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2010-06-11 Bieler Lauftage - Ulrich
« Antwort #4 am: 13.06.2010, 21:03:43 »
Das war toll zu lesen. Ich konnte und kann es mir noch immer nicht wirklich vorstellen, wie es ist, so einen Lauf zu machen. Wie du ihn erlebt hast ist wirklich bewegend. (Mir fehlen die Worte)
hippocampus abdominalis

Offline JM

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2010-06-11 Bieler Lauftage - Ulrich
« Antwort #5 am: 13.06.2010, 21:32:38 »
das war keine Bericht, das war eine Liebeserklärung - an deine Frau und an Biel. Sehr emotional und soooo romatisch. Ich freue mich sehr für euch. Großartig !
When your life flashes before your eyes, make sure you’ve got plenty to watch

Offline running1951

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2010-06-11 Bieler Lauftage - Ulrich
« Antwort #6 am: 14.06.2010, 08:42:20 »
gratuliere euch beiden !
ein phantastisches gemeinsames erlebnis. das bleibt euch die nächsten 100 jahre im gedächtnis hängen und hilft euch über so manche hürde.
respekt vor der zähigkeit von heidi!
Läufer lachen, leben, lieben länger

Offline pipel

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2010-06-11 Bieler Lauftage - Ulrich
« Antwort #7 am: 14.06.2010, 09:06:24 »
Bravo, ein toller Bericht, ein Wahnsinnslauf und eine berührende Liebeserklärung (ich mein jetzt nicht den Lauf ;)).
Stop the world — I wanna get on!
(Leo Bloom in "The Producers")

Offline boenald

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2010-06-11 Bieler Lauftage - Ulrich
« Antwort #8 am: 14.06.2010, 09:56:01 »
Ich hätt bitte gerne ein Foto des Streckenpostens, als du einen Kilometer vor dem Ziel wieder umgedreht und zurückgelaufen bist!! Das hat Stil! Unüberbietbar! Romantik und Chuzpe - passt zu dir. Gratuliere zu dem Abenteuer und DANKE für diesen Bericht!
Paragraph eins: jedem sein´s.

Offline dodo

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2010-06-11 Bieler Lauftage - Ulrich
« Antwort #9 am: 14.06.2010, 09:59:01 »
nochmal bravo, bravo, bravo! um dieses gluecksgefuehl waehrenddessen und danach beneide ich dich ;)

Offline Tschitschi

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2010-06-11 Bieler Lauftage - Ulrich
« Antwort #10 am: 14.06.2010, 10:28:39 »
Danke für den tollen Bericht, was für ein Erlebnis!
"man muss wissen bis wohin man zu weit gehen kann" jean Cocteau

Offline chribi

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2010-06-11 Bieler Lauftage - Ulrich
« Antwort #11 am: 14.06.2010, 11:38:03 »
gratulation, ein super bericht. find das sooooo toll, dass du wieder zurückgelaufen bist

Offline wi(e)nfried

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2010-06-11 Bieler Lauftage - Ulrich
« Antwort #12 am: 14.06.2010, 12:58:38 »
Sehr schöner Bericht! Um den Endspurt nach 95 km haben dich sicher viele beneidet, und doch wartest du auf deine Frau - genau so muss man wohl so einen "hirnrissigen Lauf" laufen. :-)
“During the hard training phase, never be afraid to take a day off.
If your legs are feeling unduly stiff and sore, rest; if you are at all sluggish, rest;
in fact, if in doubt, rest.”
- Bruce Fordyce

Offline StefanM

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2010-06-11 Bieler Lauftage - Ulrich
« Antwort #13 am: 14.06.2010, 14:47:07 »
So schön kann Biel sein und das Schönste, ich hab gar nicht laufen müssen um es mitzuerleben - Wahsinnsbericht!
Bei km99 umdrehen hat schon eine innere Logik. Es geht ja nicht um eine schnelle Zeit, es geht um die wirklich wichtigen Dinge im Leben.

Offline Richy

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2010-06-11 Bieler Lauftage - Ulrich
« Antwort #14 am: 14.06.2010, 16:29:10 »
Umkehren wäre nun auch blöd – ist in Berlin ca. 500 Meter vorm Marathonziel zu lesen.
Tja – womit bewiesen wäre – die Tafel steht richtig, weil 1000 Meter vorm Ziel kann es doch angebracht sein, innezuhalten oder auch umzudrehen. Eine Geschichte fürs/des  Leben(s) – kurze Zeit unbändigbar – aber dann doch wieder gemeinsam :D
Toller Bericht – Gratulation
Die quietscht die Hüfte – kann ich nur sagen

 

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