Autor Thema: 2011-08-28 Ötztaler Radmarathon - shiloh  (Gelesen 1459 mal)

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2011-08-28 Ötztaler Radmarathon - shiloh
« am: 28.08.2011, 00:00:00 »
Datum: 2011-08-28
Event: Ötztaler Radmarathon
Distanz: 227.000 km

Ersteller: shiloh

Offline shiloh

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2011-08-28 Ötztaler Radmarathon - shiloh
« Antwort #1 am: 28.08.2011, 00:00:00 »
Der Saisonhöhepunkt

„You`re an Ironman“, plärrt es überall am ersten Juliwochenende in Klagenfurt, „Ich habe einen Traum“, ist überall im Ötztal zu lesen. Bei  mir begann alles mit einem Alptraum. Drei Freunde vom Verein hatten sich für mich angemeldet, um meine Chancen bei der Startplatzverlosung zu erhöhen. Christian, unser Präsident, hatte dann das große Los gezogen und nachdem ich Anfang März davon Kunde erhalten hatte, ließen mich die Gedanken an die Größe und Härte dieses Rennens eine schlimme Nacht verbringen. Dabei blieb es Gott sei Dank, ich hatte brav trainiert, 7000km in den Beinen, im Juni erfolgte die Startplatzübertragung, Mitte August noch 230km von Stockerau auf die Hohe Wand und retour und am letzten Augustwochenende bezog ich am Freitag Quartier in Sölden, gleich neben dem Veranstaltungsgelände in der Freizeit-Arena.

Dort gab es neben Merchandising und allerlei Verkaufsständen auch eine Ausstellung historischer Fahrräder: Witzig fand ich da vor allem die kurze Geschichte des Laufrades.
Um 1812 von Karl Drais (siehe Draisine) entwickelt, endete die kurze Blüte schon um 1820 wegen behördlicher Verbote. Wesentlich schneller als Kutschen, wählten die meist jungen und männlichen Draisinenreiter auf den schlechten Straßen immer die beste Spur und kollidierten oft mit Fußgängern und anderen Straßenbenutzern. Dadurch wurde die öffentliche Ordnung gestört und die Ablehnung immer größer.
Erst 40 Jahre danach wurde das Fahrrad in seiner  jetzigen Form in Paris und England weiterentwickelt, massentauglich gemacht und deshalb darf ich mich heutzutage mit Triathlon und Radrennen herumschlagen. Danke, Herr Drais, Herr Dunlop und Kumpane!!

Nach samstäglichem Regen durften wir 4000 Glücklichen für den Renntag gutes Wetter erwarten, perfekt!
Sonntag, 6h45 Start zu 227km und 5500HM, meine Zielsetzung: Unter 11h sollte drinnen sein.
Sölden liegt auf 1377m, es folgen ca 30km ins 800m hoch gelegene Ötz hinunter. Um in keine Kollisionen verwickelt zu werden, habe ich mich ganz hinten im Feld platziert und komme unbehelligt voran. Es ist noch dunkel, mir ist eiskalt, verkrampft und erstarrt wie ein Reptil hänge ich am Rad und hoffe auf die Sonne, die erst die Bergspitzen berührt.
Das fängt ja gut an. Endlich unten beim Kreisverkehr und es geht hinauf aufs Kühtai, 2090m.
Es geht bergauf, ich taue auf und gehe auf die Überholspur. Viele Teilnehmer müssen sich jetzt ihrer Überbekleidung entledigen – ich nicht, da ich beim Start zu leicht bekleidet war. Die folgenden 1200Hm verteilen sich auf 18km, das sind im Schnitt 8% bei einem Max. von 18%. Kühtai bzw Sellrain für sich ist eine tolle Bergstrecke, wenn da nicht noch ein paar andere Aufgaben auf uns heute warten würden. Nach 51km sind wir oben am Scheitelpunkt, bei der Verpflegungsstation lange ich ordentlich zu, dann beginnt der Schrecken.
Daß ich kein guter Abfahrer bin ist mir nicht neu, aber hier zeigen mir die anderen, wie nicht genügend meine Fähigkeiten sind. Lange Gerade lassen Geschwindigkeiten bis zu 100km/h zu, ich zittere mich dauerbremsend mit 50 bis 60 hinunter und verliere unzählige Plätze und wertvolle Zeit – nein, das macht keinen Spaß. Ich denke an Stürze und Reifenplatzer aufgrund heißgebremster Felgen und schaffe es nicht, positiv zu denken.

Irgendwann ist es endlich flacher, über Kematen ins Inntal und nach Innsbruck (600m Seehöhe). Hier ist einer der wenigen nicht gesperrten Straßenabschnitte. Kurz taucht vor uns die mächtige Schanzenanlage  am Berg Isel auf und wir Ötztaler-Aspiranten kraxeln schon Richtung Brenner hinauf. 39 eher flache Kilometer folgen zum 1300m hoch gelegenen Übergang und ein Fan am Straßenrand ruft folgerichtig: Da Brenna isch koa Berg!!
Mir geht es gut, am Tacho meist zwischen 20 und 30km/h, ich lasse Gruppe um Gruppe hinter mir. Nach 4h30 Fahrzeit bin ich oben, 127km bedeuten, dass die Hälfte schon längst geschafft ist und der Schnitt von 25 ist auch nicht übel.
Die zweite Labe hier oben will ich eigentlich auslassen, aber die Straße ist total blockiert von Labung Suchenden, so dass auch ich absteigen und schieben muß. Plötzlich steht ein Helfer mit einem Karton Schnitten vor mir – also nutze ich die Möglichkeit.
Es folgt eine 19km Abfahrt nach Sterzing, recht flach, aber trotzdem verliere ich wieder Plätze. Zwei, drei flache KM im Ortsgebiet, dann folgt der 15km lange Aufstieg auf den Jaufenpaß, 2090m hoch, Höhendifferenz 1100m. In der Sonne ist es brutal heiß, im Schatten angenehm, für einige KM fahre ich mit einem Zweiten auf der Überholspur, dann lasse ich ihn ziehen. Auf einmal merke ich,  wie still es im Feld ist. Niemand spricht mehr, nur Atem- und Mechanikgeräusche, viele kämpfen schon und als auch ich die Waldgrenze erreiche, merke ich, wie KO ich bin. Unvorstellbar, heute noch übers Timmelsjoch zu müssen.
Irgendwie schleppe ich mich zur 3. Labestation, ein Halbwrack.
Links sind Metallstangen, wo man die Räder wie in Tria-Wechselzonen mit dem Sattel einhängt. Dann torkelt der an Hungerast oder sonstigen Beschwerden leidende Radtourist auf die andere Straßenseite, wo sich die Tische biegen.Mit weit ausholenden Schaufelbewegungern à la Homer Simpson fülle ich meine Tanks mit diversen Köstlichkeiten.
Brote, Kuchen,Pepsi, Suppe…undundund. Völlig abgefüllt muß ich mir mit Aufstoßen Erleichterung verschaffen, jemand wünscht „Mahlzeit“ und weiter geht es. Noch ca 1km zur Passhöhe, oben Zipp schließen und der nächste Alp kommt. Unzählige Serpentinen hinunter ins Passeiertal, ich komme mit dem Bremsen  kaum nach. Groß und Klein, Jung und Alt, Weiblein und Männlein stürzen sich an mir mit sirrenden Felgen und quietschenden Bremsen  vorbei als gäb`s kein Morgen. Vollgas Richtung 180 Grad Kurve, kurz den Bremshebel streichelnd und schon sind sie in der Tiefe verschwunden. Waren die alle beim Fahrtechniktraining vom Max Renko auf der Donauinsel? 
Ein zufälliger Blick auf den Tacho zeigt null km/h. Will mich die Firma Sigma verarschen, so langsam bin ich auch wieder nicht – es hilft nichts, immer wieder unrealistische Werte am Display.
Meine Hände sind schon ganz taub und ich bremse nur mit Ring- und kleinem Finger. Nie wieder, so hat das keinen Sinn, mit meiner Unsicherheit gefährde ich nicht nur mich.
Ein kompletter Fahrer sollte nicht nur bergauf gut sein. Bescheide ich mich halt in Zukunft mit den Radmarathons von Schwechat und Gmünd, schafft ja auch nicht jeder.
Einem der Flotten zerreißt es mit lautem Knall einen Reifen; falls er die Panne nicht selbst beheben kann, wird er sicher nicht allzu lange auf eines der vielen Serviceautos warten müssen.

St. Leonhard liegt auf 750Hm und schon geht es wieder hinauf. Ich ziehe Windjacke und Kapperl aus, denn jetzt folgt die Krönung – oder Hinrichtung; 28km und 1760HM aufs Timmelsjoch.
Wie schön habe ich mir das im Vorfeld ausgemalt: Wie geil das sein wird, wenn ich selbsternannte Gemse mit 180km in den Beinen den finalen Anstieg zwar müde, aber doch überzeugend hochkraxeln werde. Aber da hab ich die Rechnung ohne shiloh gemacht.
Nie hätte ich  gedacht, dass Bergfahren so mühsam sein kann. Aus dem Sattel, im Sattel – nichts bringt auch nur eine Sekunde an Erleichterung. Jetzt weiß ich, wie es denen geht, die es generell nicht steil mögen.
Irgendwo ein Plakat mit der Frage: Du wolltest doch diesen Traum?
Noch 22km zeigt ein Schild, ich möchte am liebsten schieben, aber das wäre dann die totale Niederlage. Trotzdem fahre ich noch einigermaßen in gerader Linie empor und überhole viele. Mit durchschnittlichen 8 Prozent geht es gnadenlos hinauf, keine Zeit zum Ausrasten.
Immer wieder Schatten durch Wald oder Lawinengalerien, immerhin.
Die Trinkflaschen sind fast leer und die Powerbars hängen mir schon zum Hals heraus. Einzig die Gels von GU sind ziemlich lecker. Nach 10 km wird es flach und wir Elenden fallen über die Labestation Schönau her.
Von hier sind es noch 11,9km und die folgenden Kilometer sind gut sichtbar. In langen Geraden quert die Straße die Hänge hinauf und verschwindet irgendwo weit oben.
Keine 5km später befindet sich die letzte Getränkestation, Seeberalm. Verdünntes Red Bull, super! Hier sind auch irgendwo 14 % versteckt. Jetzt noch irgendwie die letzten 7,4km überstehen und noch ein paar hundert Höhenmeter. Was für ein Kampf, viele stehen, schieben schon, sitzen am Straßenrand – ich bin froh, noch immer fahren zu können, obwohl es weh tut.
Die zwei oder drei oft fotographierten Serpentinen, über die Leinen mit zerschnittenen alten Trikots gespannt sind, tauchen auf – Tibet lässt grüßen.  In einiger Entfernung eine Fahne, ein Tunnel, ein Holzhaus – endlich oben? Leider nein, eben durch den Tunnel, dann leicht bergauf, ein Schild „Austria 1km“, kurz etwas steiler, eine Linkskurve hinaus in die Sonne. Emotionslos sehe ich die Passhöhe, die Zeitnehmungsmatte, den Red Bull-Bogen. 2h30 Auffahrtszeit, 3 Stunden nach dem Jaufenpaß am höchsten Punkt des Rennens – 2509m, die Luft ist dünn, das Laktat steht mir bis zum Kinn. Ja,Panik wieder mal vor der Abfahrt? Nicht unbedingt, bremse mich schon irgendwie runter. In weiten, ausladenden Kurven liegt das Asphaltband in der flachen Geländekammer auf ötztaler Seite, ideal zum Rollenlassen, sofern man nicht shiloh ist. 500HM Abfahrt enden in einer unglaublich langen Geraden, die in einer Gegensteigung ausläuft. Zwei Polizei-Motorräder kommen mit extrem lautem Folgetonhorn entgegen, Lärm, Streß pur, war ich zu langsam unterwegs? Mindestgeschwindigkeit unterschritten?
Knappe 200 HM hinauf zur Mautstelle vergehen rascher und problemloser als befürchtet. Ich ziehe mich wieder an, bin ziemlich genau 10 Stunden brutto unterwegs, jetzt noch 20km hinunter nach Sölden und dann gleich unter die Dusche.
Konzentriert durch die Kurvenansammlung, Waldgrenze, Abzweigung Vent, Obergurgl, durch Zwieselstein, es wird flacher, Carabinieri und Rettung mit Mörderlärm bergwärts, und dann liegt endlich Sölden unten im Tal, ein paar steile Kurven in den Ort, beim M-Preis vorbei, Hauptstraße, 1000m-Marke, dann Rechtskurve ins Ziel. Fahrzeit 10h27!

Ich nehme es ziemlich unbewegt auf, einerseits kann ich wie jeder andere Finisher sehr stolz sein, andererseits dominiert doch mehr der Ärger, durch defensives Downhill eine wesentlich bessere Zeit verpasst zu haben. Während der Fahrt war mir alles egal, eine Zeit über 11h hätte mich auch nicht mehr überrascht. Hab` wohl zu spät mit dem Rennradfahren begonnen – obwohl ich ja heute mit einem Tria-Bike ohne Aufsatz mit Cosmic Carbon-Felgen unterwegs war (vielleicht auch eine Begründung für meine Unsicherheit).
Wie zum Hohn meldet erst jetzt der Tacho: Batterie Vorderrad fast leer.
Im Zimmer dann eine nette Geste der Vermieter für uns Ötztaler-Starter. Ein Glückwunschkärtchen, ein Fläschchen weinhaltigen Isodrinks sowie 3 Edelweiß aus dem Garten! Während der Siegerehrung und am nächsten Tag in der Therme Längenfeld werden aber Stolz und Freude über das Erreichte immer größer und ich merke, wie das „Nie Wieder!“ langsam der Unvernunft weicht, also der Bereitschaft, mich wieder ins Hamsterrad des „Höher,schneller,weiter“ zu begeben.
Die nächste 10 Stunden-Obsession: Beim Ironman hab` ich`s geschafft, beim Ötztaler waren 1600 Fahrer unter 10h, ich war 2151. von 3900 Finishern – zügiger Essen und an der Schwäche Bergab arbeiten, dann ist noch was drinnen!

It`s good to have an end to journey toward, but it`s the journey that matters, in the end. (Ernest Hemingway)

Offline pinguin

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2011-08-28 Ötztaler Radmarathon - shiloh
« Antwort #2 am: 02.09.2011, 19:13:06 »
Was für ein toller Wettkampf, was für ein toller Bericht - herzlichen Dank dafür. Große Hochachtung vor deiner Leistung! Ich hab auch (zu) spät mit dem RR-Fahren angefangen, da ist es echt motivierend deine Erlebnisse zu lesen. Gratuliere - gabi

Offline Willy

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2011-08-28 Ötztaler Radmarathon - shiloh
« Antwort #3 am: 05.09.2011, 09:00:43 »
shiloh, du viech! würde mich die anmeldeprozedur und die aussicht auf 10h nur isoklumpert nicht so stören, wär der ötzi auch mein traum... du durftest ihn also für viele andere stellvertretend träumen!
und zum bergabfahren: da machma mal einen kurs, gestern beim eddy-merckx ging das am allerbesten (88,6 sachen, jucheissassa!)
km xy... und das kreuz hält !!!

Offline Laugenstangerl

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2011-08-28 Ötztaler Radmarathon - shiloh
« Antwort #4 am: 05.09.2011, 10:53:23 »
RESPEKT!

Offline heitzko

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2011-08-28 Ötztaler Radmarathon - shiloh
« Antwort #5 am: 05.09.2011, 19:10:53 »
bravo shiloh!!! ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen jemals so eine tour zu fahren - selbst wenn ich 100 jahre trainieren würde (und bergab sowieso nicht, das mag ich noch weniger als du :D).

Offline boenald

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2011-08-28 Ötztaler Radmarathon - shiloh
« Antwort #6 am: 06.09.2011, 10:51:26 »
anmeldepropzedur? isoklump? mich würd ja die aussicht auf 10h rennsattel mindestens ebenso abschrecken ;) - aber egal, echt ein toller bericht, danke!!
Paragraph eins: jedem sein´s.

Offline Conny

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2011-08-28 Ötztaler Radmarathon - shiloh
« Antwort #7 am: 07.09.2011, 15:42:04 »
Der Bericht hat mich sehr beieindruckt. Ich finde die Ultraläufer ja schon höchst bewundernswert, aber so lang so viel Berg auf dem Fahrrad ist für mich noch weniger vorstellbar!

Offline Don Tango

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2011-08-28 Ötztaler Radmarathon - shiloh
« Antwort #8 am: 08.09.2011, 12:06:15 »
ich hasse zwar das radfahren aber der Ötzinger ist ein muss. mach ich dann wenn die wampn zu gross fürs laufen ist. weil die höhenmeter sind nur eine frage der compact-schaltung.
und bergabfahren muss ich auch üben.
BRAVO!


>> you'll never know, unless you go <<

Offline Tschitschi

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2011-08-28 Ötztaler Radmarathon - shiloh
« Antwort #9 am: 12.09.2011, 21:11:28 »
Danke! hab den Bericht genossen!!
"man muss wissen bis wohin man zu weit gehen kann" jean Cocteau

 

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