Autor Thema: 2009-10-10 Tour de Tirol - Kaisermarathon - boenald  (Gelesen 1166 mal)

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Datum: 2009-10-10
Event: Tour de Tirol - Kaisermarathon
Distanz: 42.195 km

Ersteller: boenald

Offline boenald

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2009-10-10 Tour de Tirol - Kaisermarathon - boenald
« Antwort #1 am: 10.10.2009, 00:00:00 »
Ich mag Berge, ich mag Laufen

3 Tage – 73km – 2200Hm. Die Kürzestversion einer möglichen Beschreibung dessen, was „Tour de Tirol“ heißen soll. Zeitsparend zu lesen, aber wenig informativ.

The Remains of the Day(s)
Vielleicht so: Der Plastiksack mit dem ganzen verdreckten, nassen Laufklamotten ist zuunterst im Rucksack verstaut, ich kann deshalb Sonntag Abend nicht großzügig „Das mach ich dann morgen!“ seufzen und mich vor die Glotze hängen. Also pack ich halt schon jetzt aus und sortier meine sieben Zwetschken auseinander. Ein paar Dinge habe ich neu aus Tirol mitgenommen. Das Stirnband etwa, es ist das Finisher-Goodie des ersten Bewerbs, das ich am Freitag schussligerweise liegengelassen habe und mir der Vollständigkeit halber am letzten Tag dann doch noch sichern konnte.
Dann die Finishermedaille plus das Kaisermarathon-BerglaufWM-Shirt, das ich im Zielbereich des Marathons immerhin bei vermeintlich geistigem Bewusstsein in meiner üblichen Größe (M) bestellt hab, in dem aber aussehe, wie eine bedruckte Weißwurst. Sehr figurbetonend ist es, ein Ansporn also.
Was noch? Neue Thermosocken, die es nach dem Kaiserwinkl-Halbmarathon gegeben hat (juhu, wieder mal ein Paar ohne die obligaten Löcher bei der großen Zehe, noch jedenfalls).
Last, but not least das Finishershirt für die Gesamttour-Starter, pfiffigerweise und zur Sicherheit diesmal in L geordert. Ich erinnere mich an den jungen Mann, der sein Exemplar neben mir aus der Verpackung nimmt und feierlich küsst wie die Sieger der Champions-League den Pokal. Rührend.
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Und ein verknittertes, stellenweise eingerissenes und abgefärbtes rotes Blattl Papier. Meine Startnummer. Das ist die erste Startnummer, die ich mir wahrscheinlich aufheben werde, meine Reliquie sozusagen. Im Prinzip wars das.

Wie wärs mit Tirol?
In Wirklichkeit war da natürlich schon mehr. Der Kaisermarathon und die Tour de Tirol geistern schon länger in meinem Kopf herum. Wieso? Sehr einfach: ich mag Berge, ich mag Laufen, ich wollte irgendwann einmal einen der Berglauf-Klassiker kennenlernen: Zermatt, Jungfrau, Graubünden, wie sie alle heißen mögen. Alles nicht ganz so einfach, spätestens auf den zweiten Blick. Entweder terminlich, oder wegen der Ungewissheit, rechtzeitig einen fixen Startplatz zu bekommen (Jungfrau z.B.), hohe Anreise- und Quartierkosten, irgendwas hat immer mehr oder weniger gestört.

Doch dann: Wie wärs eigentlich mit Tirol? Anreise öffentlich wie mit PKW kommod, Freunde in der Gegend von Innsbruck, die bei der Gelegenheit auch besucht werden können, 2009 noch dazu Austragungsort der Berglauf-Weltmeisterschaft – kurz: wir haben einen Gewinner in der Ausschreibung von Bernhard´s WK-Kalender 2009. Anmeldung ist rasch erledigt, im ersten Überschwang wähle ich ratzfatz die Kategorie „Gesamtstarter“, nicht wissend, worauf ich mich da einlasse. Mein ausgetüfteltes Trainingsprogramm stelle ich recht bald wie folgt um: Wienerwald, Wienerwald und als Alternative Wienerwald. Auf diese Weise komme ich halbwegs auf Kilometer und Höhenmeter, und fad wird mir dabei schon gar nicht. Sporadisch leiste ich mir auch flache Longjogs (interessante Erkenntnis: Hügelläufe wirken sich sichtlich positiv auf die Grundlagenausdauer aus), und mit der Rax gönne ich mir sozusagen meinen Jungfernlauf im bergigen Gelände.

Noch vor dem Sommer gelingt es mir dann auch noch, Tschitschi auf den Gusto zu bringen, nach ihrem K78-Triumph steht sein und Larissas Entschluss fest, auch in Tirol zu starten. Da Seppi dieses Jahr völlig zurecht auf eine gute Platzierung bei der WM spitzt, startet er „nur“ im Marathon.

9. Oktober 2009 - Tag 1
Mit Marion und meinen Twins stehe ich in Innsbruck am Bahnsteig und friere. In der Früh hat es geregnet, grauslich kalt ist es. Und das, nachdem wir gestern Abend noch plaudernd und Bier trinkend vor dem Haus unserer Freunde in Rinn gesessen sind. Im T-Shirt, wohlgemerkt. Jetzt hingegen: Herbstbeginn, aufgeregt bin ich auch schon, und der Zug nach Wörgl kommt erst in fünf Minuten. Allerdings wird es bald besser. Bis ich in Söll, dem Headquarter der Tour de Tirol angekommen bin, scheint wieder die Sonne, spätestens im Festzelt beim Abholen der Startunterlagen beginne ich die Atmosphäre zu genießen und freue mich auf das, was da auf mich zukommen wird. Den Nachmittag verbringe ich mit Spazierengehen, Pasta Essen und Leute treffen. Resümee: Jonathan Wyatt ist tatsächlich so entspannt und freundlich wie landläufig behauptet wird. Und Seppi ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht Vizeweltmeister, versorgt mich aber mit letzten Tipps zur Strecke.

Kurz vor 17:00 treffe ich mit Larissa und Tschitschi zusammen und wir fahren gemeinsam nach Reith im Alpbachtal, zum ersten Akt der Tour. Vier flache Runden á 2,5km durch das schöne Dorf sind in zauberhafter, lauer, fast trockener Abendstimmung zu absolvieren. Wirklich schön, ein gelungener Auftakt. Aber, jetzt mal im Ernst, liebe Tiroler: flach heißt „flach“, also so was Ähnliches wie zum Beispiel „eben“. Wir wollen uns da gar nicht auf Extrembeispiele wie die Hauptallee versteifen, einen gewissen Interpretationsspielraum gibt es selbstverständlich. Nur: der ist nicht beliebig dehnbar, auch nicht im Westen. 130 Höhenmeter auf 10km sind ohne Zweifel ganz gut zu schaffen – aber, und darauf lege ich Wert, nicht „flach“. Ok? Danke.
Den Startschuss erle(di)gt ein täuschend echter Tiroler Schütze mit einer Miene, als hätte er zum letzten Mal nach der Schlacht am Bergisel gelacht. Wir sind beeindruckt. Offenbar auch der Läufer unmittelbar hinter uns, denn der schaut wahrscheinlich auch mehr auf den Schützen als auf die Strecke und steigt Tschitschi hinten auf die Füße – Sturz! Zum Glück nix Gröberes passiert, Tschitschi steht gleich wieder und rennt dahin. Von Runde zu Runde schneller übrigens. Zuerst einen Hügel bergauf, 180°-Wende, wieder runter, Vorsicht beim Abbiegen auf regennasser Fahrbahn, dann ein wunderschönes Stück Kraut und Rüben über einen Feldweg zurück auf die Hauptstraße des Dorfs und (flach bergauf ;)) wieder zum Start-Zielbereich. Bis Runde 3 kann ich ganz gut mithalten, dann verabschiedet Tschitschi sich nach vorne, ich schnaufend hinterher. Meine Zehnerbestzeit vom „Forumsinternen Testzehner“ ist logischerweise niemals ernsthaft in Gefahr. Egal, das Rennen kann was, der ganze Ort ist auf den Beinen, überall wird geklatscht, gejohlt, gebimmelt und angefeuert, macht Spaß! Bald ist auch Larissa im Ziel, wir sind uns einig, einen gebührenden ersten Tour-Teil genossen zu haben. Wir lassen den Abend noch in Sauna und bei einem Abendsnack ausklingen. Gute Nacht!

10. Oktober 2009 - Tag 2

Der Tag beginnt gar nicht gut. Beim Frühstück erfahre ich, dass sich Larissa schweren Herzens entschlossen hat, verletzungsbedingt nicht beim Marathon zu starten. Ohne genau zu wissen, was da eigentlich genau in Oberschenkel und Gesäß zwackt, wäre es unklug, sich die Strapazen von 42km und 2100 Höhenmetern anzutun. Kann man, muss man verstehen, so schwer´s fällt.

Einlaufen
Das Praktische an Großveranstaltungen in Kleinorten ist, dass es von überall nicht weit zum Ort des Geschehens ist. Manchmal ist es sogar noch kürzer. Vom Hotel zum Start sind es nämlich nur heiße 60 geschlenderte Sekunden, insofern haben wir das Glück, unsere Bekleidungssäcke eine dreiviertel Stunde vorm Start zur Abgabe bringen zu können und uns dann im Zimmer noch in aller Ruhe in die Rennwäsche zu werfen. Uns ist angenehm warm, als wir an den Start gehen, ein bisschen herumhopsen sollte als Warm up genügen, schließlich gibt’s dann sowieso noch die 7km flache Einlaufrunde von Söll zum Alpenschlössl und wieder retour. Ähemm, flach? Haben wir denn aus dem gestrigen Abend überhaupt nichts gelernt? Nicht genug, soviel steht fest. Denn die flachen ersten Kilometer sind genauso tirolerisch flach wie der Alpbachtaler Zehner. Also, keineswegs gebirgig, aber doch so, dass es spürbar nicht geradeaus geht. Andererseits, es flutscht dahin, und dass die ersten paar Kilometertafeln mit Sicherheit nicht jeweils 1km auseinander stehen, trägt das Seine dazu bei, dass wir uns bald einmal denken: ja, warum denn eigentlich nicht? So verbringen wir, um ein wenig vorzugreifen, den Großteil der Strecke bis zum Halbmarathon im Tempo knapp um 5min/km.

Publikum
Dem Gefühl nach muss die Gegend an den Renntagen faktisch entvölkert gewesen sein. Entweder die Leute sind selber mit gerannt (die Starterlisten der Einzelveranstaltungen waren imposant), oder sie sind bei den gut bestückten und reich besetzten Verpflegungsstationen beschäftigt gewesen, gar nicht wenige auch noch als Streckenposten dazwischen – oder sie sind anfeuernd mit Rasseln, Kuhglocken und was der Stall bzw. die Küche sonst noch hergegeben hat, neben der Strecke gestanden oder gewandert. Herrliche Momentaufnahmen kann man hier aufschnappen und lächelnd mit auf den Weg nehmen.

Eine Gruppe älterer Damen, die angesichts des hinteren Drittels des Starterfelds sachkundig und heftig nickend befinden „Die haben wenigstens richtige Ärsche…!“
Ganze Familien, die sich über das Balkongeländer hinausstrecken und sichtlich den Ehrgeiz verspüren, mit ihrem Getrommel und Gejohle auch noch das Nachbartal zu unterhalten.
Immer wieder Kinder die hoppauf-schreiend mit jedem Marathonläufer abklatschen, den sie erwischen können.
Zum Beispiel auch so unverblümte Ignoranz, dass es schon wieder lustig ist: Ein etwa 50jähriges Pärchen, das angeregt am steilen Wegrand diskutiert. Sie: „Versteh ich gar nicht, was du meinst. Wieso soll Jeder ein Sieger sein? Es muss ja schließlich auch Verlierer geben, oder?“ – Er: „Naja….“ – Super danke, gut gemacht, Mannsbild, voll schlagfertig gekontert! Echter Sportsgeist :D!
Brodelnde Stadionatmosphäre bei jeder Berghütte mit Bierausschank, an der wir vorbei- bzw. über deren Terrassen wir drüberlaufen. Hätte ich an jedem Bier, das mir angeboten wurde, genippt, ich wäre wegen Alkoholisierung spätestens beim Hexenwasser aus dem Rennen genommen worden.
Oder die gmiatliche Sanitäterin, die sich nach der Startnummer bückt, liest und dann mit einem strahlenden „I winsch da ois Guade fian letztn Berg, Bernhard“ die Hand schüttelt.
Oder, oder oder….

So geht’s nicht weiter
Ab km 16 oder 17, irgendwo zwischen Scheffau und Ellmau müssen wir notgedrungen umdisponieren. Bis dahin haben wir die Strecke gemeinsam und in vollen Zügen genossen. Es ist abwechslungsreich, überall gibt’s was zu sehen, zu entdecken, es ist schön, es ist fallweise sonnig, es ist nicht zu heiß, die Füße rollen dahin, noch immer in einem Tempo, mit dem wir in der Ebene 3:30 anlaufen würden. Kurzum: was für ein Spaß, aber wir leisten uns damit einen renntaktischen Dumme-Bubenfehler, denn bei allem Zutrauen in unseren Trainingsstand, haben wir hier verschwenderischen Umgang mit unseren Kräften betrieben und den Grundstein für die weiteren Entwicklungen gelegt.
Auf einmal Materialpech – Tschitschi verliert seinen Gurt, an dem er die Kamera befestigt hat. Ist irgendwie hinüber, das Zeug. Mit Gurt in der einen und Kamera in der anderen Hand Marathon laufen? Wie soll das gehen? Ich trabe weiter, will eigentlich zu zweit bleiben und lass mich von Tschitschi wieder einholen (Gurt und Kamera hat er mittlerweile einem Streckenposten übergeben). Allein, dieses Manöver hat ganz offenbar viel Kraft gekostet, sodass er mich kurz vor dem Halbmarathon allein weiterschickt.

Ab der Talstation der Standseilbahn wird´s ernst. Heißt: steil. Ein Läufer, der die Strecke noch vom letzten Jahr her kennt, meint, die Forststraßen seien ganz gut zu laufen, der schmale Waldweg, den wird er diesmal gleich von Anfang an gehen, damit er´s wieder sub 5:00 schafft. Nachträglich kann ich dazu nur sagen: famous last words…, den Herren hab ich auf der Strecke nicht mehr gesehen, ihm dürfte es recht bald recht übel gegangen sein. Seine Streckenbeschreibung noch im Ohr nehme ich gleich den ersten steilen, langen Anstieg in Angriff und laufe die Forststraße hinauf. Geht ja. Das war wohl aus späterer Sicht der verwegene Dumme-Bubenfehler Nummer 2 – viele Geher, die ich am Weg von Ellmau auf den Hartkaser und zur Rübezahlalm überhole, treffe ich früher oder später wieder. Der Zeitgewinn ist also ein bloß vorübergehender gewesen. Hinzu kommt noch: die Muskeln meiner Beine finden das alles spätestens ab Kilometer 23-25 nicht mehr so easy-locker-flockig.

Krämpfe
An einen kann ich mich erinnern, den hatte ich im Schulschwimmen, zweite Klasse Gymnasium, Stadthallenbad, Sportbecken. Dann gabs noch mal einen, vor etwa sechs, sieben Jahren am Peilstein, beim Aufstehen auf einer kleinen Leiste – war unangenehm. Und seit dem Kaisermarathon noch ein paar mehr. Die Waden haben sich schon gegen Ende des Aufstiegs zur Rübezahlalm alles andere als frisch angefühlt und mit verdächtigem Zucken und Mucken gemeldet, als sich die Strecke dann endlich wieder etwas verflacht (tirolerisch verflacht, also mäßig rauf und runter geht ;)), ziehts mir den Oberschenkel zusammen. Hinhockerln hilft für den Moment, dann macht der Schenkel gleich wieder zu. Erstmals eine gewisse Unruhe in mir: Was wird das noch? Wir sind noch längst nicht mal bei Kilometer 30 und es macht schon solche Probleme? ein älterer Läufer fordert mich auf, aufzustehen und vorsichtig zu gehen zu versuchen – Bingo! Nach einiger Zeit entspannt sich der Oberschenkel und ich kann wieder vorsichtig weiterlaufen. Von der jugendlichen Frische der ersten Rennhälfte ist natürlich nicht mehr so viel übrig. Pech, aber was soll´s – immerhin laufe ich wieder.

Landschaftlich ist die Strecke zwischen Hartkaser und dem letzten Steilaufstieg auf die Hohe Salve traumhaft: Berge, Almen, immer wieder Hütten, fröhliches Publikum. Das Wetter spielt perfekt mit – schöne Aussicht ohne zu große Hitze, als es schließlich konstant einige Kilometer bergab geht, zieh ich mir sogar mein dünnes Windjackerl an und bin froh drüber. Aber es wird verdammt zach. Obwohl die Streckenführung hier von allen Passagen des Kaisermarathons am leichtesten ist, schaff ich selten und wenn, dann mit Mühe Kilometerzeiten unter 6 Minuten, ich spüre förmlich, wie meine Kraftreserven allmählich aufgebraucht werden. Einen Läufer sehe ich ein paar Kurven vor mir am Boden herumkugeln, nachdem schon alle anderen an ihm vorbeigelaufen sind (Tunnelblick? Einfach nur deppert?), bleib ich stehen und frag ihn, ob er vielleicht Hilfe braucht. Wenig überraschend, er hat auch mit Krämpfen zu kämpfen. Trifft sich gut, ich kann mich als Routinier aufspielen und geb ihm den bewährten Tipp mit aufstehen und vorsichtig langsam gehen. „Super Idee“, meint er, „aber kannst du mir vielleicht aufhelfen, ich komm nicht hoch…“ - Weiter geht´s, ich laufe, verschnaufe ausführlich bei den Verpfleguungsstationen und werde in dieser vorletzten Phase des Rennens immer wieder von meinen eigenen Emotionen überrascht, es ist einfach ein so ungewohnt intensives Erlebnis. Schön irgendwie…

Finale - Hohe Salve
Irgendwie gemein, dass man das Ziel des Marathons schon zum Greifen nah sieht, bevor man noch mal ein paar hundert Höhenmeter runter zum Hexenwasser läuft, von wo es dann so richtig brutal ins Ziel geht. Ein Berg, der irgendwie nicht ins Klischee passt: er ist nicht sooo hoch, er ist grasig bis oben, er hat eine ungewöhnlich regelmäßige Kegelform, er ist jedenfalls einprägsam. Letzte Verpflegung, dreieinhalb bis vier Kilometer vor dem Ziel, das kann und wird sicher noch eine schwache Stunde brauchen. Ich merke bald, zulegen und fotogen ins Ziel tänzeln wird’s heute keinesfalls spielen. Nur eins steht fest: ins Ziel komme ich! Zunächst gehen sich sogar noch ein paar Laufschritte aus, dann ist es Schluss mit lustig, senkrecht wär übertrieben, aber der Schlussabschnitt ist so verdammt steil, gatschig und mühsam, dass ich froh bin, halbwegs zügig gehend voranzukommen.
Bis es mir plötzlich innerhalb von Sekundenbruchteilen den linken Unterschenkel derart heftig und schmerzhaft zusammenzieht, dass es mich auf den Hintern setzt und ich nach Luft schnappe. Glück im Unglück: wenige Meter unterhalb von mir zwei Streckenposten, die mir beim Gegenstrecken helfen und was zu trinken geben. Immer wieder versuche ich aufzustehen – immer wieder muss ich feststellen, dass ich zu optimistisch war, der Haxen verlangt seine Zeit. Meinetwegen, kriegt er. Als es dann endlich wirklich soweit ist, dass ich mich erheben kann, Glück im Unglück Nummer 2: Tschitschi taucht auf, er hat früher als ich zu leiden begonnen, muss aber von der Filzalm bis zum Hexenwasser ein wahrhaft fulminantes Rennen gelaufen sein. Wir stapfen gemeinsam den Berg hinauf. Kilometer was weiß ich, 40 oder 41, ein hoch angesetzter Schritt und jetzt spielt der rechte Unterschenkel das Lied vom Tod. Christian geht weiter, er wittert die berechtigte Chance, es unter fünf Stunden bis ins Ziel zu schaffen, ich kann zwischen zwei Felsstücken meinen Fuß dehnen und beruhigen und wandere von da an wie auf rohen Eiern weiter. Nur nicht noch einmal so ein Krampf, bitte, geht das? Vorsichtig, mit kleineren Schritten kämpf ich mich hinauf, an der Drum-Batterie der Musikkappelle Söll vorbei, die knapp unterm Ziel einen Höllenlärm veranstalten, hinein in den immer schmäler werdenden Kanal von klatschenden, applaudierenden Zuschauern, nach 5:02 durch den Zielbogen, wo Larissa und Christian schon warten. Es ist unbeschreiblich, stark. Mein Kaisermarathon ist vorbei.

Wenig später, wir sind gerade ins trockene Gewand geschlüpft und schlürfen alkoholfreies Weißbier, bemerken wir, was wir für ein ultimatives Massl haben. Wir sind nämlich so gut wie die Letzten, die es vor einem wirklich grauslichen und kalten Regenguss ins Ziel und in die Gondel talwärts geschafft haben. Den späten Nachmittag und Abend verbringen wir regenerativ auf dem Massagetisch, in der Sauna, beim Essen. Gute Nacht!

11. Oktober 2009 – Tag 3

Nach dem Frühstück haben wir Wichtiges vor: wir können Seppi persönlich zu seinem WM-Erfolg gratulieren.


Dann ruhiger Vormittag, Zeitunglesen im Bett, Auschecken im Hotel, Fahrt nach Walchsee, dort stehen vier wirklich schöne Runden (nein, auch die sind ganz sicher nicht „flach“) rund um den gleichnamigen See abschließend auf dem Programm. Wie soll, wie kann man nach einem Zehner und einem nicht ganz unanstrengenden Marathon noch einen Halbmarathon laufen? Diese Frage war für mich nicht beantwortbar – bis wir es einfach gemacht haben. Es bleibt ein großes Rätsel dieser Tour, wie es den Beinen dann nämlich doch unerwartet gut gelingt, einigermaßen locker zu laufen. Das mit der Welle der Euphorie, auf der man ins Ziel schwebt, ist natürlich umgekehrt auch wieder ein wenig übertrieben und verklärt. Insbesondere die letzte Runde war schon eine harte Nuss.
Aber schön.
Ein intensives, aufregendes, tolles Wochenende ist vorüber. Und wenige Stunden später sitze ich daheim am Bett und verstau das Stirnband, die Socken, die Finishershirts und die Medaille im Kasten. Nur die Startnummer bleibt heraußen, für die suche ich noch einen Platz.



p.s.: falls sich wer genauer für die Strecken interessiert, hier sind sie ein bisschen besser nachvollziehbar.
Alpbachtaler Zehner - http://connect.garmin.com/activity/15767517
Kaisermarathon – http://connect.garmin.com/activity/15767537
Kaiserwinkl Halbmarathon - http://connect.garmin.com/activity/15977902


Paragraph eins: jedem sein´s.

Offline heitzko

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2009-10-10 Tour de Tirol - Kaisermarathon - boenald
« Antwort #2 am: 13.10.2009, 13:30:02 »
aaaah das warten hat sich ausgezahlt! liest sich wie ein klasser abenteuerroman :)! ich kann nur sagen, euch tirol-touristen gilt meine größte hochachtung!!!

Offline dogrun

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2009-10-10 Tour de Tirol - Kaisermarathon - boenald
« Antwort #3 am: 13.10.2009, 13:31:00 »
Hochachtung und Gratulation zu der Leistung!

Und natürlich danke für diesen unterhaltsamen Bericht!
„Sport stärkt Arme, Rumpf und Beine / Kürzt die öde Zeit / Und er schützt uns durch Vereine / Vor der Einsamkeit.“ (Joachim Ringelnatz)

Offline StefanM

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2009-10-10 Tour de Tirol - Kaisermarathon - boenald
« Antwort #4 am: 13.10.2009, 15:22:34 »
Bitte unbedingt wieder einmal quälen, sie sind so schön deine Berichte!
Die Halbmarathonzeit als "a Hinicha" am letzten Tag ist auch nicht zu verachten. Gratulation zum hart erarbeitetem roten Blattl Papier.

Offline cbendl

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2009-10-10 Tour de Tirol - Kaisermarathon - boenald
« Antwort #5 am: 13.10.2009, 21:42:01 »
Bernhard, ich glaube, du musst die Tour nächstes Jahr wieder machen - damit es wieder einen soooo schönen Bericht gibt. KOmpliment zu beiden Leistungen!
hippocampus abdominalis

Offline Tschitschi

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2009-10-10 Tour de Tirol - Kaisermarathon - boenald
« Antwort #6 am: 13.10.2009, 22:01:39 »
Danke Bernhard für den Bericht: Das mit den ....richtigen Ärschen " hab ich glatt vergessen, z.B, auch vieles anderes ist verschütt gegengen und kommt bei deinem Bericht wieder hoch!
War mit ein Genuss in deiner Gesellschaft!
"man muss wissen bis wohin man zu weit gehen kann" jean Cocteau

Offline pipel

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2009-10-10 Tour de Tirol - Kaisermarathon - boenald
« Antwort #7 am: 14.10.2009, 08:43:04 »
Ein ganz toller Bericht und eine unglaubliche Leistung. Meine Hochachtung!
Stop the world — I wanna get on!
(Leo Bloom in "The Producers")

Offline JM

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2009-10-10 Tour de Tirol - Kaisermarathon - boenald
« Antwort #8 am: 14.10.2009, 20:39:38 »
Beeindruckend dein Bericht. Nicht nur die Länge ;) , sondern auch Stil und letztens und vor allem der Inhalt. Hast mir ein Floh in den Kopf gesetzt mit dem Bericht...
Willst du mein guide für nächstes Jahr sein ? :)
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Offline Conny

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2009-10-10 Tour de Tirol - Kaisermarathon - boenald
« Antwort #9 am: 14.10.2009, 21:45:06 »
..und du magst Schreiben, offensichtlich. Danke für diesen Bericht und natürlich herzliche Glückwünsche zu diesen 73 tirolerisch gebirgig absolvierten km.

Offline Richy

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2009-10-10 Tour de Tirol - Kaisermarathon - boenald
« Antwort #10 am: 14.10.2009, 22:46:07 »
Kann mich da nur den Vorschreibern anschliessen, Berhard, mach das nächstesw Jahr nochmal. Schon alleine des Berichts wegen ;)

Offline Ulrich

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2009-10-10 Tour de Tirol - Kaisermarathon - boenald
« Antwort #11 am: 17.10.2009, 19:40:56 »
Ich würd ja gern schreiben.. "Es kann nur einen geben" oder " We don´t need another hero", aber das würde all jenen Unrecht tun, die Jahresweltbestleistungen, Vizeweltmeisterschaften oder auch einfach nur großartige Laufleistungen erbracht haben.
Drum kurz: GENIAL! Deine Berichte sind Literatur und deine Erzählungen eine Freude.
Weil 42 die Antwort ist und 130 der Sinn

 

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