Ein Neuanfang
Eigentlich könnte man meinen, dass ein Laufbericht von der 30. Austragung des Wien-Marathons für erfahrene run42192.at-User genauso spannend ist, wie eine Wegbeschreibung vom Praterstern zum Lusthaus. Trotzdem, für mich war es ein ganz besonderer Marathon und deshalb gibts einen Bericht dazu.
Prolog
Es gibt Naturtalente, die ihren ersten Marathon in 3:30 finishen. Ich bin keines. Heuer sind es 10 Jahre, dass ich Marathon laufe. Bei jedem Start hatte ich stets nur ein Ziel: ins Ziel kommen und unter 4 Stunden bleiben.
Gründe warum mir das nie gelang gab es viele. Zu wenig Training, Motivationskrise, Verletzung, Krankheit, zu heiß, zu kalt, wasweissich.
Diesmal sollte es anders sein.
Diesmal hatte ich einen Trainingsplan. Ich plante zu trainieren. Nichts konkretes, keine Vorgaben. Einfach nur Kilometer machen. Den ganzen langen Winter durchlaufen, trotz Kälte und Schnee. Das war mir bisher noch nie gelungen. Ich kann den Winter gar nicht leiden und so war mein Lauftraining in den Jahren davor oft monatelang unterbrochen.
Heuer war ich brav. Zur Abwechslung gönnte ich mir ein paar Wettkämpfe, lief aber nicht alle voll.
Den Wien-Energie-HM lief ich trotz schwieriger Bedingungen in 1:48. Das stimmte zuversichtlich.
Perfekt lief es trotzdem nicht. Ganz lange Läufe verschob ich auf die warmen Wochen vor dem Marathon. Die warmen Wochen blieben leider aus. Der Winter verschwand nicht.
Zwei Wochen vor dem Marathon kippte meine Stimmung eher ins Negative. Die Regeneration nach den Halbmarathon dauerte recht lange. Dazu kamen Rückenschmerzen und andere Wehwehchen. Ich begann mich damit abzufinden, dass die 4 Stunden wieder nicht fallen werden oder ich sogar beim Halben abbiegen muss.
An 6 Wettkämpfen habe ich Jänner bis März teilgenommen, zu viel?
Raceday
Für meine Verhältnisse komme ich recht früh zum Start, so ca. 8:20. Meine Frau und ich haben zusammen mit zwei guten Freunden eine Staffel gebildet für die ich auch den Startläufer mache. Wir checken noch unsere Übergabestrategie. Dann treffe ich auf ein paar Forianer. Heidi, Katrin, Hubert und Ulrich wollen gemeinsam ca. 4 Stunden laufen. Obwohl ich beim Laufen ein Einzelkämpfer bin folge ich gerne Ulrichs Einladung und versuche mich anzuschließen. Nach kurzer Diskussion welcher Startblock geeignet wäre, wählt Ulrich den perfekten Startplatz.
Wir kamen gut weg, der erste Kilometer war unerwartet schnell, was mir Schwergewicht bergauf etwas zu schaffen machte.
Die nächsten Kilometer liefen wir mit 5:50-5:55. Ich bin zwar ein Freund von negativen Splits, begann mir aber Sorgen zu machen ob der Rückstand auf den angestrebten 5:40-Schnitt nicht zu groß werden würde. Als wir dann bei Km5 in den ersten Labestellen-Stau gerieten lief ich unverpflegt weiter. Zwar irgendwie blöd 50m vor der Gruppe mit der ich gestartet war ein einsames Rennen zu laufen, aber ich musste meinen eigenen Rhythmus finden.
Ungefähr bis Km10 kämpfte ich mit allen möglich Kleinigkeiten, ein Zwicken da, ein Zwacken dort. Trotzdem blieben die großen Probleme aus. Mein Rücken gab Ruhe, das war im Moment das Wichtigste.
Die Staffelübergabe bei Km 16 lief problemlos. Die untere Mariahilferstrasse nutze ich für einen Zwischensprint um etwas Zeit gut zu machen.
Als sich dann die Wege von Marathon und HM trennten fiel es mir erstaunlich leicht „auf dem rechten Weg“ - nämlich der linken Spur zum ganzen Marathon - zu bleiben. Ich fühlte mich erstaunlich gut. Die Zwischenzeit von knapp unter 1:59 sagte mir „alles ist möglich, nix is fix!“
Auf dem langen Umweg in den Prater zurück bemerkte ich wie wellig die Strecke eigentlich ist, das hatte ich gar nicht so in Erinnerung. Nachdem Winter und Kälte seit ein paar Tagen verschwunden sind und sich nun ungewohnte Hitze breitmachte, trank ich bei jeder Gelegenheit 1-2 Becher. Meistens Wasser und Iso. Auch von den Bananen nahm ich mir jedes Mal ein Stück um keinen Hungerast zu riskieren.
Bis zum Prater ging es so weiter, der Kurs Richtung sub4 stimmte. Als ich bei Km30 durchlief kam langsam das Gefühl es schaffen zu können. Wenn ich aus dem Prater rauskomme und noch halbwegs beieinander bin, wird es klappen. Irgendwo im Prater sah ich meine Frau, die den letzten Teil der Staffel übernommen hat. Sie hat mich nicht gesehen, ich wünschte ihr im Gedanken, dass sie den Weg ins Ziel genießen kann, während ich dahinleiden werde.
Meine Uhr hatte mittlerweile ca. 300m mehr drauf, also musste ich die Restzeit von den Kilometertafeln berechnen.
Km32 – noch 10km.
Jetzt beginnt der eigentliche Kampf um sub4.
Als ich an diesem Schild vorbeikomme zeigt meine Uhr ca. 2:59 Laufzeit.
Also noch 10km im 6:00-Schnitt und 1 Minute Puffer. Das geht. Das Laufen fällt zunehmend schwerer, auch außerhalb der Labestationen schleichen sich kurze Gehpausen ein. Ich weiß, ich muss jeden Kilometer in 6 Minuten schaffen – egal wie.
Ungefähr bei Km35 dämmert es mir, der Marathon ist nicht bei Km42 zu Ende. Es sind dann noch 195m. Die eine Minute Puffer – warscheinlich mehr – geht schon allein dafür drauf.
Bei Km37 schwinden die Lebens- und Kampfgeister ordentlich. Es geht sich noch immer haarscharf aus. Oder eben nicht. Ich war noch nie so nah dran es zu schaffen. Es könnte ja noch eine PB werden. Von 4:02 auf 4:01, wow genau das brauch ich. Weil ich einfach nicht mehr konstant durchlaufen kann, wechseln sich Gehpausen und (gefühlte) Sprints ab.
Km39 letzter Check, es kann sich ausgehen. Immer wieder denke ich mir: "Ich war noch nie so nah dran! Sobald ich am Ring bin ist es geschafft!" Der Marathon geht ins Finale.
Meine linke Wade verkrampft sich - immer nur kurze Zuckungen - , aber ich fürchte der Muskel könnte jederzeit „einschnappen“ und es geht gar nichts mehr. Bisher war alles nur eine Frage der Willenskraft. Aber ein Muskelkrampf lässt sich nicht wegdenken. Ich probiere verschiedene Fussstellungen beim Laufen in der Hoffnung den Muskel zu versöhnen. Ohne zu wissen warum ist es plötzlich wieder vorbei.
Ich bin am Ring, aber ich bin zu spät. Auf die Uhr schauen und rechnen geht nicht mehr. Ich fühle, dass ich zu spät bin.
Jetzt hilft nur noch die harte Droge. Adrenalin muss in den Körper. Ich beginne zu schimpfen. Nicht auf die Sonne, viel zu sehr hat sie mir gefehlt in den letzten Monaten. Nicht auf den Marathon, ist dieser Weg doch das grosse Ziel des selbstgewählten Übels. Ich schimpfe mit mir selbst. „Tu dir nix an wegen der kleinen Steigung, renn!“, brülle ich. Eine Läuferin vor mir springt betroffen zur Seite. Ich entschuldige mich schnell und kläre auf, dass ich Selbstgespräche führe. Auch noch andere - weniger feine – Sätze werfe ich mir an den Kopf. Auch wenn mich rundherum alle für verrückt halten müssen, es wirkt. Ich kann nochmal alles aus mir rausholen und fliege im Strohfeuer der allerletzten Reserven dem Ziel entgegen.
Von den Menschenmassen auf den letzten Metern bekomme ich nichts mehr mit. Zum Glück ist die Strecke gut abgesperrt, sonst würd ich mich glatt verlaufen. Irgendwann ist der letzte Bogen durchquert und ich drücke die Uhr ab.
3:59:22 steht am Display meiner geliebten Garmin. Ein paar Sekunden auf oder ab, aber es ist klar: die 4 Stunden sind gefallen! Ich lehne mich an das nächstbeste Absperrgitter und lasse meinen Gefühlen freie Bahn. Zwischen Heulen und Lachen ist alles dabei und ich lasse mich ungeniert gehen. Soeben hat ein neues Läuferleben begonnen, nie wieder muss ich mit diesem Druck an den Start eines Marathons gehen. Vielleicht werde ich einmal 3:50 schaffen, gut dann freu ich mich. Vielleicht laufe ich den nächsten in 4:15, auch egal ich hab ja die 4 Stunden schon geknackt. Das kann mir keiner mehr nehmen. Unter anderen Umständen hätte ich das schon vor 10 Jahren haben können. Aber das ist jetzt egal. Heute ist der Tag.
Als ich langsam wieder ins Jetzt zurückkomme mache ich mich auf den Weg zum Ausgang, freu mich auf ein Iso und eine Kleinigkeit zum Knabbern. Direkt im Zielbereich finde ich nur Mineralwasser, besser als nix. Nach dem ressourcenschonenden Goodie-Bag freu ich mich auf ein pralles Jubiläums-Finisher-Sackerl. Bei den VCM-Winterläufen gabs immer diese leckeren – obwohl angeblich gesunden – Kuchen und eine Flasche Iso. Mal schauen was sonst noch dabei ist. Dann die Enttäuschung, das Sackerl ist genauso leer wie ich. Bananen hatte ich schon genug, kein Kuchen, kein Riegel. Ein Zero-Iso. Für Figurbewusste. Lieber Sponsor, ich bin nicht figurbewusst, schon gar nicht nach 4 Stunden Rennen. Ich bin einfach nur hungrig nach Kohlehydraten. Bedeutet "isotonisch" in dem Fall, dass das kraftlose Getränk schnell Energie von meinem Körper zugeführt bekommt?
Später am Staffeltreffpunkt traf ich auch die Ulrich-Truppe die sich dem warmen Wetter angepasst hatte und etwas länger unterwegs war.
Den restlichen Sonntag verbrachte ich unter anderem damit auf mein offizielles Ergebnis von Pentek zu warten. Das kam nicht, da ich Marathonchip und Staffelchip am gleichen Bein getragen hatte und sich diese (wie ich später erfuhr) gegenseitig störten. Dadurch war meine Zeitnehmung lückenhaft. Nach einigen Mails mit meinen Angaben zum Startblock und Mitstarter, GPS-Aufzeichung und Strecken- und Zielfotos kam am Mittwoch die erlösende offizielle Nettozeit: 3:59:18.
Und nun? Soll man nicht aufhören, wenns am Schönsten ist? Nein, ich glaube jetzt fängt es erst richtig an!