Autor Thema: 2015-05-30 2015 Ultra Trail World Championship - cbendl  (Gelesen 1063 mal)

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Datum: 2015-05-30
Event: 2015 Ultra Trail World Championship
Distanz: 88.000 km

Ersteller: cbendl

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2015-05-30 2015 Ultra Trail World Championship - cbendl
« Antwort #1 am: 30.05.2015, 00:00:00 »
Ein Griff ins (Plumps-)Klo

Eigentlich wollte ich nicht einen richtigen Bericht schreiben – so viele negative Eindrücke würde kaum jemand verstehen, und es würde sicher auch nicht gut ankommen. Das Gerüst zu diesem Bericht stammt aus einer E-Mail, die ich am 04.06. an den ÖLV Ultralaufreferenten Reinhold Straßer, der die Teilnehmer um ihre Eindrücke gebeten hatte. geschrieben hatte. Als aber meine nicht direkt geheimgehaltene, aber auch nicht groß kommunizierte WM-Teilnahme an die Öffentlichkeit gelangte, wurde doch an verschiedenen Stellen der Wunsch nach einem Bericht laut. Anscheinend klang das (Wenige), was es zu lesen gab, Neugier erweckend.

Warum es mir gar sooo extrem schlecht ergangen ist, weiß ich selbst nicht genau, aber ich beginne von vorne:
Anders als bei vielen recht chaotisch geplanten Ultra-Weltmeisterschaften waren diesmal die Eckdaten schon sehr lange (noch vor so mancher WM 2014), nämlich im Jänner 2014, klar: Austragungsort sollte Annecy in Frankreich sein, im Rahmen des traditionellen „Maxi Race“ rund um den Lac d’Annecy bzw. die ihn umgebenden Berge, am 30. oder 31. Mai. 88 km und 5300 Höhenmeter würde die Strecke haben.

Nun war meine Erwartungshaltung nach der WM 2013 in Llanrwst so, dass ich durchaus an einer neuerlichen WM-Teilnahme interessiert war. In Wales war ich nach einer langwierigen Verletzung (Stressfraktur im Mittelfußknochen) und einem praktisch nicht vorhandenen Training eigentlich recht gut gelaufen. Beste Österreicherin, Platz 23 und mit dem, was ich realistischerweise mit gutem Training hätte schneller laufen können, wäre die Plazierung so in Richtung Top-Ten gegangen. Da war natürlich der Ehrgeiz geweckt, es bei einem neuerlichen Start besser zu machen.

Dass die Strecke um ein vielfaches anspruchsvoller sein würde als im Gwydyr Forest, war mir klar und ich hatte großen Respekt vor der (möglichen!) Teilnahme. Fix war es für mich noch lange nicht, ich wollte erstmal sehen, wie sich die Dinge entwickeln würden.

Mein Lauf-Freund Pierrick startete dann im Mai 2014 bei einem der vielen Bewerbe, die es in Annecy an diesem Rennwochenende gibt, nämlich dem „XL-Race“, das über die volle Distanz, allerdings auf zwei Tage aufgeteilt, führt. Die Bilder, die ich davon sah, waren sehr einladend, und wenn ich schon jemanden hatte, der aus erster Hand über den Lauf berichten konnte, nützte ich das natürlich auch. Die entscheidende Frage war, ob er es sich denn vorstellen könne, dass ich dort laufe, und zwar die ganze Strecke auf ein Mal. Könne er, aber leicht wäre es natürlich nicht. Gut, das genügte mir einmal, ich hatte natürlich vor, mich richtig – richtig!! – gut vorzubereiten. Dafür würde ich auch in die nahen Berge fahren (und mir von Don Tango Tipps für passende Strecken holen), mir im Winter frei nehmen, um ausreichend bei Tageslicht trainieren zu könne, usw., usw.

Dass bei mir im Sommer und Herbst 2014 nach meinem erfolgreichen Halbmarathon wegen diverser langwieriger Probleme so ziemlich nichts lief, machte umso mehr Lust, 2015 wieder eine richtig große Sache anzugehen, und so geschah es, dass ich mich im Jänner 2015 entscheid, mich für die WM-Teilnahme zu bewerben – und auch nominiert wurde. Hartnäckige Schmerzen an der Schienbeinkante, die nur sehr langsam nachließen, ermöglichten nur geringe Trainingsumfänge, ich musste viel alternativ trainieren und auf Ergometer und Nordic Walking ausweichen. Ab Weihnachten 2014 wurde es besser und langsam wurde mehr und mehr laufen möglich. Noch war eine gute Vorbereitung möglich, aber viel dazwischen kommen sollte lieber nicht.

Die ersten Wettkämpfe – Silvesterlauf und einige Crossläufe – waren einigermaßen zufriedenstellend und zeigten Fortschritte. Und dann – am 14. Februar, als alle Welt im Valentinsrausch war – passierte es: Bei einem wirklich lockeren Lauf (tags darauf war Wettkampf geplant) plötzlich ein Stechen im rechten Bein, das schnell immer schlimmer wurde, ich konnte kaum auftreten und schnell war die Vermutung da, dass das eine Stressfraktur im Wadenbein sein dürfte. Die Vermutung wurde durch ein MRT gleich fünf Tage danach bestätigt. Das wäre eigentlich der Punkt gewesen, meine WM-Pläne zu begraben. Allerdings sah die Verletzung auf den ersten Aufnahmen relativ harmlos aus: Es hieß fünf Wochen schonen – kein Laufen, alles andere wäre normal möglich, dann weitersehen. Vor dem für Anfang März geplanten Treffen des Ultralauf-Nationalteams informierte ich Teamchef Reinhold Straßer, dass ich zwar an den Vorträgen und Diskussionen, jedoch nicht an den gemeinsamen Läufen teilnehmen würde. Seine Befürchtung, ob das auch eine Absage für Annecy bedeuten würde entkräftete ich gleich mit Zweckoptimismus: „Bis dahin wird’s schon wieder gehen!“ Und das, obwohl eigentlich bei gutem Verlauf die Vorbereitung eigentlich etwas knapp sein würde. Da war der Wunsch Vater des Gedanken – was nicht sein darf, kann nicht sein. Ich hatte zwar das Gefühl, dass sich keine (deutliche) Besserung einstellen würde, aber gleichzeitig *konnte* ich es mir nicht vorstellen, dass die Heilung nicht wie geplant verlaufen würde. Das zweite MRT, vier Wochen nach dem ersten, belehrte mich des Besseren. Gleich nach der Untersuchung kam die dringende Ermahnung der Assistentin, auf den endgültigen Befund zu warten, mit einem Arzt zu sprechen, mit meiner Ärztin sofort Kontakt aufzunehmen und JA NICHT !!! herumzuhopsen. Ich konnte es kaum glauben, dachte irgendwie an einen Irrtum, aber tat wie mir geheißen. Die traurige Gewissheit war die folgende: Die Fraktur bzw. deren Bild („Ceci n’est pas une pipe“!) hatte sich deutlich verschlechtert. Das lag, wie ich dann langsam herausfand, an drei Faktoren:
•   Technisch war das zweite Aufnahmegerät deutlich besser und die Bilder schärfer. Auf den ersten Bildern konnte man nur „irgendwas“ erkennen, aber genaue Lokalisation und Größe waren undeutlich.
•   Fünf Tage nach einem Trauma ist eigentlich zu früh für ein MRT. Die vollen Ausmaße einer Verletzung sieht man erst später.
•   Und: Es war eben wirklich nicht besser geworden, wie mir mein meist erfolgreich verdrängtes Gefühl geflüstert hatte.

Also wieder was gelernt.

Tipp: Diagnosezentrum Liesing macht wirklich „schöne“ Bilder, und ist um das Wohlhergehen der Patienten bemüht. ;)

Tags darauf ging es ins UKH Meidling, wo mir ab sofort totale Entlastung verordnet wurde. Ich hatte die Wahl – Krücken oder Gips. „Was wollen Sie lieber?“ Na was weiß ich?? Jetzt istʼs auch schon wurscht, Pest oder Cholera, gebt mir das, was halt sinnvoller ist. In einem inneren Monolog entschied sich der Arzt für Krücken – „wenn ich verspreche, wirklich nicht aufzutreten!“ denn fünf Wochen nach dem Trauma ist Gips doch nicht so sinnvoll. Mein kurzer Gedanke „Mit Gips kann ich nicht schwimmen, also vielleicht keinen Gips …“ wurde gleich abgeschmettert: Kein Schwimmen, kein Aquajoggen, kein Ergometer – gar nichts! Gehen darf ich, so lange ich kann und will – und aus Erfahrung wusste ich ja (und der Arzt wohl auch): Das ist mit Krücken nicht viel …

Bis dahin hatte ich einen recht guten Trainingsrhythmus gehabt: Tägliches Training, abwechselnd Schwimmen (die Haut hing mir schon in Fetzen und die Augen tränten ununterbrochen), Krafttraining und Ergometer. Nach der neuerlichen Untersuchung war mir als einziges davon Krafttraining erlaubt – das machte ich während der folgenden zweieinhalb Wochen in einer Mischung aus Zeitmangel und vor allem Frust genau *ein* Mal. Am Karfreitag (im Gegensatz zu 2013, als mir zu diesem Termin eine Verletzung diagnostiziert wurde, ein guter Tag) hatte ich die nächste Kontrolle im UKH Meidling und nach dieser wurde ich für mein „schönes“ Röntgen gelobt. Hurra! Diesmal hatte mir mein Gefühl auch gesagt, dass jetzt der Knochen *wirklich* zusammenwuchs. Und eine neue Lektion lernte ich: Bei Ermüdungsbrüchen – im Zweifel: Immer sofort Krücken! Ein wohlsortierter Haushalt hat sowas ohnehin zu Hause stehen, mit den zusätzlichen Krücken für den akuten Fall konnte ich sogar zwischen Indoor- und Outdoor-Krücken wechseln, und sparte mir ständiges Krücken-Putzen. :)

Vom Trainer kam auch die Ermahnung, mich nicht komplett hängen zu lassen, und dazu vier verschiedene Schwimmprogramme, die ich über die Woche verteilt machen sollte: Ein Mal lang, einmal intensiv, ein Mal „mix“ und ein Mal regenerativ. Dazwischen war mir schon 30 Minuten lockeres Ergo-Fahren erlaubt. Neben dem ewigen Schwimmen war Ergo eine richtige Wohltat!

So ging’s durch den April, bis ich am 23.04., einem schönen Frühlingstag, meinen ersten Laufversuch starten durfte. Das Programm war: 5 Minuten Gehen – 5 Minuten Laufen – 5 Minuten gehen – 5 Minuten Laufen – nochmals kurz Gehen, das ganze möglichst auf weichem Boden. Der Einfachheit halber legte ich das in den Stadtpark und „hüpfte“ von einem Rasenfleck zum nächsten. Endlich mal Laufen im Stadtpark – oft werde ich ja gefragt: „Und, laufen Sie im Stadtpark?“ Nein, nicht wirklich, die ca. 1-km-Runde dort ist ja nicht gerade das Gelbe vom Ei … :) Diesmal reichte mir der Park für meinen Aktionsradius jedoch aus. Anstrengend waren diese beiden Laufversuche! Der Puls sprang in ungeahnte Höhen. Und auch etwas schmerzhaft, doch zum Glück war ich gewarnt, dass ich mit so etwas rechnen müsste, dass dies jedoch bei plangemäßem Heilungsverlauf auch wieder bald verschwinden würde. Die erste Trainingswoche schloss ich mit 5,15 km ab.

Nun gut, ich hatte von da an fünf Wochen Zeit bis zur WM. Dummerweise hatte ich die Chance abzuspringen insofern verpasst, als im April Ulli für das WM Team absagte. Somit gab es keine Reserve, wir waren nur drei Frauen, das Minimum für die Teamwertung. Natürlich hätte ich trotz allem angesichts meiner Verfassung absagen sollen, bloß: Ich bin eben schlecht im Überbringen negativer Nachrichten. :( Ich dachte auch daran, wie unerwartet gut es doch für Wales geklappt hatte. So ein Wunder erhoffte ich wieder. In der zweiten Woche war das Programm ähnlich wie in der ersten: jeden zweiten Tag laufen, immer zwei Laufabschnitte, von einer fünfminütigen Gehpause unterbrochen, und jedes Mal das Laufen um 2 Minuten verlängert. Damit kam ich auf beeindruckende 20,64 km.

In der 3. Woche bei 2 x 17 Minuten angelangt wagte ich dann den Sprung auf 2 x 25 Minuten! Damit schaffte ich (inklusive eines knapp viertelstündigen Gehabschnitts am Ende) sogar meine etwas über 13-km-Laufen Hauptallee-Standardrunde. Das war ein Glücksmoment, wieder die Strecke Büro – Lusthaus – Büro zu schaffen, es war wie eine Heimkehr. Das nächste war dann schon 7,79 km am Stück, wieder eine Weiterentwicklung. Ab dann richtete ich mein Training (soweit vorhanden) darauf aus, eher lange und hüglige Läufe zu machen. Anfangs natürlich mit Gehpausen, ich konnte ja noch nicht weit laufen. Beispielsweise umrundete ich den Lainzer Tiergarten, langsam aber doch. Vor allem bergab aber gehend. Woche drei somit 45,86 km!

Für die verbleibenden beiden Wochen wurde die Brechstange ausgepackt – naja, eigentlich nur für eine … Dienstag RudLT, Donnerstag U4U4, Wochenende das ASICS Frontrunner Wochenende (natürlich mit lauter fitten und hochmotivierten Kollegen …) bei dem es auf einen recht ordentlichen Trail ging, bei dem ich meine technischen Fähigkeiten austesten konnte. Sie waren enden wollend … Immerhin bemerkte ich auf dem steilen Abhang und Gegenhang, den wir für schöne Fotos viiieeelfach runter- und rauf-rannten langsam gewisse Fortschritte, was meine Trittsicherheit anbelangte. Ich kam mehr ins Laufen und trippelte nicht nur bergab. Die Bergab-Unsicherheit war mir nämlich schon beim RudLT unangenehm aufgefallen. Mit 76,05 km schlug sich diese Woche zu Buche.

In der Folgewoche ging’s noch einmal RudLT, aber dann kam der Erholungsbedarf nach diesem Turbo-Training durch und ich wurde leicht kränklich. Daher den Rest der Woche nur mehr kurze lockere Läufe, lockere Ergo-Einheiten und an „langen“ Einheiten gab es eben Wanderungen. 52,4 km gelaufen, und die Wettkampfwoche stand an. Was ich ursprünglich geplant hatte, ein Briefing durch Pierrick (wie ist die Strecke genau, was gilt es zu beachten, usw.) sparte ich mir. Ehschowurscht, da müssen wir nicht die Zeit vertun.

Vorn der Vorbereitung her war es also recht klar, dass mir das Training fehlte, aber gut, da läuft man eben entweder langsamer, und alles ist trotzdem einigermaßen in Ordnung, oder man geht nach einem zu schnellen Start ein, aber bei mir hat es ja von Anfang an nicht gepasst, es ging auch in den letzten Tagen vor dem Wettkampf alles daneben.

Mit dem vorhin schon erwähnten leichtem Fieberchen ging es dahin, nicht gesund und auch nicht krank, aber dann verschwand es doch irgendwann, endlich. Dazu kamen noch zwei Nachtschichten, vor der Abreise, in denen Martin und ich daran gearbeitet hatten, den Track auf meine Uhr zu spielen. Letztendlich ist es uns auch gelungen, aber es hat mich einiges an Erholung gekostet. (Und noch nach Annecy wollte das Garmin TraingCenter diesen Track partout bei jeder Synchronisation auf die Uhr spielen – der Aufwand soll ja nicht umsonst gewesen sein! :p )

Dadurch, und aufgrund eines sehr frühen Fluges kam ich also nicht gerade ausgeruht nach Annecy, aber rechnete damit, dass ich dort (wie ich es bei Wettkämpfen ja immer mache, da ich im Normalfall nie zu ausreichend Schlaf komme) die zwei Tage davor Kräfte sammeln könnte. Mit der Ankunft im Hotel (Flug und Transfer zum Hotel klappten super, die Info, dass wir am Flughafen Genf – unbedingt !!! so stand es in allen Unterlagen – zum französischen Ausgang raus müssten, war zwar, wie viele andere Angaben, falsch, spielte aber keine Rolle, denn ein Mitarbeiter der WM identifizierte uns gleich in der Ankunftshalle – Gerhards „Austrian Athletics“-Jacke und mein Laufrucksack waren wohl ausreichend gute Indizien – und eskortierte uns zum Shuttle, der uns schnell zum Quartier brachte) ging es dann aber nur mehr bergab: An der Rezeption des Hotels (das „Zweithotel“ der WM, in dem einige Nationen untergebracht waren, da das geplante Haupthotel nicht ausreichend Kapazitäten hatte) wurde uns eine ganz andere Zimmereinteilung mitgeteilt als angefordert: Verena, Simone und ich würden in einem Dreierzimmer sein, und Umplanung wäre auch nicht möglich, weil zu viele kämen. Ich hatte zwar den Informationsstand, dass Simone und Thomas in ihrem Camper sein würden, aber es könnte ja sein, dass sie da inzwischen etwas geändert hätte und ich nicht am letzten Stand war. Und als ich das Zimmer sah ... Ein extrem enges Verlies, mit einem Doppelbett und quer darüber noch ein Stock-Einzelbett, kaum Abstellfläche. Vorraum, WC und Dusche würden wir uns mit einem Doppelzimmer teilen, somit war es eigentlich ein auf zwei Räume aufgeteiltes Fünferzimmer - mit EINEM WC und EINER Dusche. Die Vorstellung, wie wir uns am Samstag in der Nacht dort rennfertig machen würden, war eigentlich gar nicht möglich. Die Dusche noch dazu ein hässliches „Loch“ im Boden, fast wie ein Plumpsklo – ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich das durchstehen würde. Michael, unser Delegationsleiter bei dieser WM, war leider noch nicht da, um die Dinge zu klären (z.B. ob Simone und Thomas nun kommen würden oder nicht) und die Hotelmitarbeiter völlig ignorant, unsere Anliegen waren ihnen wurscht. Ich ließ dann mal meinen Koffer in meinem eigentlich zugeteilten Zimmer und parkte mich zwischendurch in Winfrieds (freundlicherem) Zimmer, in der Erwartung / Hoffnung, dass Thomas nicht kommen würde und ich seinen Platz haben könnte. Wirklich ausruhen konnte ich mich aber, so zwischen zwei Zimmern, nicht. Endlich kam am Nachmittag Michael und die Sachlage klärte sich: Simone und Thomas würden tatsächlich nicht im Hotel einziehen, und die Fünferzimmer würden uns auch allein zur Verfügung stehen, ohne dass die dranhägenden Doppelzimmer von anderen Teams belegt sein würden. So war das dann ganz OK, die Zimmer waren zwar weiterhin grauslich, aber wir konnten uns wenigstens verteilen: Verena und Gerald in ein Fünferzimmer, Andreas und Gerhard ins andere, und Winfried und ich im Doppelzimmer. Zu dem Zeitpunkt war es aber schon bald Zeit zur Eröffnungsfeier aufzubrechen. Wir saßen auch pünktlich um fünf im Bus, da hieß es, Abfahrt erst um 17:30. Nochmals zurück ins Zimmer zahlte sich aber auch nicht aus, also „durften“ wir im Bus warten. In Annecy angekommen mussten wir dann mal ca. zwei Stunden herumstehen, jedenfalls deutlich länger als in Seregno, wo es ja schon nicht lustig war. Nach dem Einmarsch nochmals zwei Stunden auf der Tribüne sitzen und der weiteren Eröffnungsfeier zuschauen (Akrobaten, Sänger, Stabhochspringer, Paragleiter, Alphornbläser, Ansprachen, Verlesung des Trailrunner-Manifests, …), bis kurz nach halb neun alle Athleten das Areal einfach verließen (Dank an das belgische Team, das mutig den Anfang machte!), da immer noch kein Ende der Feier in Sicht war. Um 21:00 waren wir dann endlich beim Essen ... Rückfahrt dann irgendwann nach 22:00 und kurz vor 23:00 waren wir im Hotel. Mein erster geplanter Erholungstag fiel also aus.

Am nächsten Tag war ich zur Dopingkontrolle ausgelost – OK, wobei es meines Erachtens eher ein Alibitest war: Nur Hämogloin und Hämatokroit, und das in einer Maschine, die erst beim 3. Versuch ein Ergebnis ausspuckte. Die Kontrollore erklären mir, dass die Maschine „kaprizös“ wäre – na sehr vertrauenserweckend ... Die Dopingkontrolle war im Haupthotel, dem Balcons du Lac d'Annecy, wir waren also mit Michael im Auto hingefahren, er musste danach allerdings zum Technical Meeting, das extrem lang dauerte: zuerst versuchten die Teams die offensichtlichen Inkonsistenzen aufzuklären, deren es viele gab (z.B. ein Ausrüstungsgegenstand als „empfohlen“ angeführt, weiter hinten waren dann aber Penalties für's Nicht-Mitführen definiert, usw.). Dann wurde es aber zäh, als die Leute begannen, extra konstruierte Fälle aufzuzählen, wie diese gehandhabt würden, z.B. was ist, wenn jemand Stöcke mitführt, diese dann in einen Rucksack verpackt und schließlich den Rucksack abgibt ... Und dann wiederholten sich die Fragen auch noch. Das Technical Meeting dauerte also ewig, und ich musste warten, bis ich wieder mit Michael zurückfahren konnte. Einen Dopingtest durchzuführen, aber sich nicht zu überlegen, wie die Leute zurückkommen ist schon sehr blöd, und der Freitag Vormittag war auch schon vorbei.

Freitag Nachmittag dann Sachen herrichten und dann versuchen, früh schlafen zu gehen. Nur leider gab es das Abendessen erst „wie es sich für ein ordentliches Diner gehört“ um 19:30. Kein Chance auf ein Früh-Abendessen, um früher einschlafen zu können.

Als ich im Nachhinein Fotos vom Donnerstag und Freitag sah, fand ich es erschreckend, wie fertig ich schon vor dem Start aussah, und eben auch teilweise auch schon am Donnerstag und Freitag. Vielleicht lag's auch an der Pollenallergie, in Wien hatte ich zwar keine Probleme, aber in den vielen Wiesen dort flog Zeug herum, das ich überhaupt nicht vertrug. Da dachte ich mir bei meinen zwei kurzen Läufen Donnerstag und Freitag: „Gut, dass wir in die Berge raufmüssen, dort wird das nicht herumfliegen.“

Und das letzte, und wohl Unangenehmste, was meine Vorbereitung störte, war der Transfer zum Start. Um 01:00 gab es Frühstück, danach war Fahrt nach Annecy zum Start angesagt. Verena, Andreas, Gerald und Gerhard fuhren ja mit Michael zu Start, für mich blieb der Bus über, der um 02:15 fahren sollte. Erst später fiel mir ein bzw. auf, dass wir ja zwei Autos vor Ort gehabt hatten (Andreas, Verena und Gerald waren per Auto angereist), aber da hatte wohl keiner Lust zu fahren. A….karte gezogen. Es waren jedenfalls auch alle Athleten pünktlich bis fast-pünktlich da, aber der Bus fuhr nicht, erst um 02:45 war Abfahrt – und das erst nach lautstarkem Protest des britischen Teams, das einige aussichtsreiche Athleten umfasste, aber ebenfalls in diesem Bus gefangen war. Das hieß also an diesem Morgen: Beeilen, um rechtzeitig im Bus zu sein, somit auch keine Zeit für Klogehen, aber das Ganze war eh unnötig. Und hinten fehlte diese Zeit dann auch … Der Bus fuhr dann so, dass mir furchtbar übel wurde (wir mussten ja von St.-Jorioz schnell nach Annecy kommen, um 03:30 war Start … ), ich hätte es gerne rausgekotzt, es wäre vermutlich eine Erleichterung gewesen, das gelang mir aber leider nicht. Wir kamen dann natürlich sehr spät im Startgelände an, es war dann nur mehr eine Riesenhetzerei zu finden, wo ich hin musste, und es ging sich „natürlich“ auch vor dem Start wieder nicht aus, aufs Klo zu gehen. Übel war mir immer noch. Ich glaube, diese beiden Sachen haben mir am ärgsten zugesetzt. Ich zog nur noch Überhose und Jacke aus und schmiss die Sachen sowie meinen Rucksack irgendwohin, ich dachte, dass irgendwer es schon einsammeln würde. Dann gingʼs auch schon los, zuerst einen Kilometer durch Annecy am See entlang, dann verschwanden wir im Wald und es ging den ersten Berg hinauf, aber ich fühle mich wirklich von Anfang an schwach. Ich hatte schon bei der ersten Labe nach 18,7 km deutlichen Rückstand auf geschätzte Zeit (das Zelt mit den Verpflegungstischen war schon fast leer) und beim Stehenbleiben bei der ersten Labe zitterten meine Beine schon. Dass ich nicht viel sprach, nur sagte „Ich fühle mich soo schwach“ war wahrscheinlich nicht besonders vertrauenserweckend. Hier konnte ich immerhin die Stirnlampe abgeben, da es schon Tag geworden war. Sie saß gut, drückte nicht, rutschte nicht, gab wirklich gutes Licht, aber allein das Gewicht bereitete mir auf Dauer Nackenschmerzen.

Diese erste Labe (Rav 1) war kurz nach dem Gipfel des ersten Bergs (Sommet du Semnoz am 1644 m). Da hatte ich noch die Hoffnung, dass es danach auf dem Bergabstück etwas erholsamer dahin gehen würde und ich Kräfte für den nächsten Anstieg sammeln könnte, aber dem war leider nicht so. Technisch hatte ich bergab große Schwierigkeiten, was ich nicht verstand, denn ich bin normalerweise eine gute Bergabläuferin. Es waren meine Schuhe auch nicht ideal. Zwar Trailschuhe, aber der Kurs (v.a. die Bergabstücke mit einer Kombination aus rundgewetzten Steinen, feuchter Erde und Laub) hätte ein aggressiveres Profil verlangt. Runter ging es also auch nur sehr mühsam, wie auf rohen Eiern. Zwei mal stürzte ich auch, aber das ist vermutlich vielen passiert, es war harmlos, nur ein aufgeschlagenes Knie, das ist nicht überzubewerten. Ich war allerdings auch wirklich extrem vorsichtig (und dementsprechend langsam!), sonst hätte ich das nicht durchgestanden.

Ich kämpfte mich also weiter, obwohl ich irgendwie gerne schon bei Rav 1 ausgestiegen wäre, mein Gefühl war eindeutig nicht nach weiterlaufen. Ich konnte mich allerdings doch irgendwie nicht zu einer Aufgabe überwinden. Ich konnte ja noch (irgendwie) laufen und ich dachte auch an die Teamwertung. Dass aus dieser dann doch nichts wurde, da Simone das Rennen vorzeitig beendete, war schon bitter. Nach Rav 1 ging es erstmal hinab, und dann den zweiten, etwas kleineren Berg, den Col de la Coclette mit 1327 m, wieder hinauf. Ein paar Kilometer nach Rav 1 hatte mich der führende Mann des offenen Rennens, das um 05:00 gestartet war, überholt. Nach ca. 30 km kam die führende Frau an mir vorbei. Zum Glück ging es recht rücksichtsvoll zu. Gerade die Spitzenläufer waren so gut drauf, dass sie problemlos, ohne Geschwindigkeit zu verlieren, auch an unwegsamen Stellen locker überholen konnten. Und wenn es mal enger wurde, dann blieb ich einfach stehen. War eh schon wurscht. Das offene Rennen hatte auch den Vorteil, dass ich (und die wenigen anderen noch langsameren WM-Läufer) nicht allein auf der Strecke war. Bei einem Notfall oder auch nur im Fall von Verirren wäre Hilfe nicht weit gewesen. Markierungen gab es aber ohnehin zahlreiche, nur ganz zu Beginn des Rennens war – noch im Finsteren – eine Stelle recht unklar. Da war das Feld aber noch so geschlossen, dass es keine Schwierigkeiten gab, den Weg gemeinsam zu suchen.

Es war schwer zu sagen, ob es bergab oder bergauf schlimmer war. Immerhin wusste ich, als es begann, den zweiten Berg hinauf anzusteigen, dass ich wieder einen Abschnitt geschafft hatte. Ich teilte mir die Strecke in Bergauf- und Bergabstücke ein. Vier Mal rauf, vier mal runter muss ich … Auf der Startnummer war das Höhenprofil (auf dem Kopf stehend) aufgedruckt, so dass man immer wieder nachschauen konnte, wo man sich befand, und was als nächstes kommen würde. Ich fand das angenehm. Allerdings nervte mich sonst alles furchtbar. Mich nervte mein Zopf, der dauernd nach vorne fiel, anstatt ruhig an meinem Rücken hinunterzuhängen. Mich nervte mein kratziges Shirt – da ich mit Rucksack lief, hatte ich mich nicht an das ärmellose Singlet gewagt, da sonst die Träger reiben könnten, die kurzärmligen Shirts sind aber eher für Eröffnungs- und Schlussfeiern und weniger für’s Laufen geeignet. Mich nervten auch die anderen Teilnehmer mit ihren Trailrunner-Gehabe. Da ist groß von Individualität und Nonkonformismus die Rede, aber „rein zufällig“ haben dann doch alle das gleiche an. Und Trailrunner-Manifeste werden verlesen, aber der Dreck wird dann doch in den Wald geschmissen. Eine leere Gelpackung dort wieder einzustecken, wo man sie rausgezogen hat, sollte je eigentlich nicht so schwierig sein, denke ich. Mich nervte auch der Smalltalk von einigen, die fragten, was ich für eine Strecke laufe. Die ganze! Die erstaunten Gesichter danach hatte ich bald satt. Ja ich weiß, ICH BIN LANGSAM! Lass mich doch einfach in Ruhe … Es waren auch einige nette dabei, so schlimm war es nicht, aber viele machten mir das Leben unnötig schwer.

Nach dem zweiten Berg war auch „schon“ Halbzeit: Rav 2 war bei km 44, in einem längeren Asphalt-Flachstück in dem Annecy gegenüberliegenden Ort an der Westspitze des Sees. Da meinte Martin noch vor meiner Abreise, dass ich dort über den Asphalt fliegen könnte. Da war ich schon skeptischer, es sollte noch schlimmer kommen als ich es mir ausmalen hatte können. Natürlich ging es im Flachen zügiger voran, aber der Unterschied zu normalem Laufen wurde gerade da noch viel deutlicher. Ich schlich dahin wie kaputte 24-h-Läufer in der Endphase. Bei der Halle, in der sich die (sehr große) Rav 2 befand, angekommen, kam dann aber doch kurz ein gewisses Gefühl von Stolz auf: Hier wurde der Weg in drei verschiedene Richtungen geleitet: Eine für die Teilnehmer des XL Race, die dort ihr Zwischenziel hatten und am nächsten Tag die zweite Hälfte in Angriff nehmen würden. Eine für die Staffelläufer (es gibt auch einen Viererstaffelbewerb), die dort den zweiten Wechsel hatten. Und den Weg der Helden, die die ganze Umrundung allein und auf einmal machen durften, diesen durfte ich nehmen – das fühlte sich an dieser Stelle schon irgendwie gut an. Es war auch sehr viel los, die Zuschauer schrieen und lärmten, das war mir egal, ich wollte nur irgendwie weiterkriechen. In der Halle war die rechte Hälfte, dort wo die WM-Teams ihre Tische hatten, schon ganz leer. Nur Winfried stand allein herum, und musste auf mich warten. Er erinnerte mich sehr an das sprichwörtliche Kind im Kindergarten, das von den Rabeneltern nicht abgeholt wird und als allerallerletztes warten muss und tat mir sehr leid. Während ich eine Flasche Iso austrank begann er kurz vom Rest der Truppe zu erzählen. Da schnitt ich ihm das Wort ab, ich wollte gar nicht wissen, wie die anderen toll den Kurs absolvieren nur ich Loser komme nicht voran.

Stattdessen erwähnte er kurz die Labe des offenen Laufs, was es dort für Köstlichkeiten gäbe, vielleicht würde mich das ja aufbauen? Ich schaute also rüber, das sah wirklich nicht schlecht aus. Unter anderem Pizza, Quiche, Weichkäse (diesen hatte es schon bei Rav 1 gegeben, schon dort hatte er mich erstaunt – dass man bei einem solchen Lauf manchmal seltsame Gelüste bekommt, ist mir klar, aber an Weichkäse würde ich mich sicher nicht wagen), Schokolade, usw., usw. Mit etwas Pizza und einem Stückchen Quiche machte ich mich weiter auf den Weg.

Ich hätte natürlich bei Rav 2 aufhören können. Die Hälfte der Strecke war geschafft, man hätte es als ernsthaften Versuch werten können. Aber irgendwie ging es ja noch. Ich konnte, so lange noch *ein* weiterer Schritt ging, nicht aufhören. Das wäre noch unbefriedigender als mein langes Leiden gewesen.

Also ging es weiter. Der nächste Berg war der Pas de l’aulp mit 1622 m. Dieser hatte auf dem Streckenplan am anspruchsvollsten ausgesehen.
Es ging wieder dahin, das letzte Stück vor dem Pass erinnerte mich ein wenig an den Teufelssteig auf der Veitsch, nur etwas länger. Und dort war es mir auch noch nie so elend gegangen. Den französischen Teufelssteig hinaufkeuchend begann wieder ein Mitläufer aus dem offenen Rennen mit mir zu plaudern. Was ich denn für einen Bewerb laufen würde? „Die WM, und wahrscheinlich bin ich eh die letzte …“ Ah nein, er hat vorher auch gerade ein paar mit der gelben Startnummer überholt, aber die sahen nicht gut aus. Ich wohl auch nicht … :) aber dass ich nicht ganz die letzte war, motivierte mich doch etwas (ich erinnerte mich zwar, im ersten Abschnitt drei koreanische Teilnehmer überholt zu haben, aber die sahen so langsam aus, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass die ernsthaft vorhatten, das Ziel zu erreichen). Mein Ziel war nun, Nichtletzte zu bleiben! Trotzdem nervte mich inzwischen auch, dass ich so furchtbar stank, und alle um mich herum, ebenfalls. Die meiste Zeit dachte ich dann an Duschen und an die wichtige Frage: Im Ziel nur einfach Duschen oder mich in den See werfen und kurz schwimmen? Schwimmen würde mir einerseits guttun, aber was mache ich dann mit den nassen Sachen? Und außerdem braucht es wiederum mehr Zeit als Duschen. Also vielleicht doch nur Duschen? Um dieses Thema kreisten meine Gedanken einige Stunden.

Dass es vom Pas de l’aulp hinunter nicht angenehm und erholsam werden würde, war mir schon klar geworden. Zum Aufhören war dieser Punkt, fern jeder Zivilisation, trotzdem nicht geeignet. Mit meiner Entscheidung, bei Rav 2 weiterzulaufen, war eigentlich auch die Entscheidung gefallen, dass ich es bis zum Rav 3 bei ca. km 70 schaffen müsste. In dieser Phase ging es teilweise sehr steil und gatschig bergab. Ausgerechnet an einer der unangenehmsten Stellen kamen mir ein paar Läufer entgegen – elegant und schwungvoll bergauf, und offensichtlich auch freiwillig! Sehr nett feuerten sie die gezeichneten Teilnehmer an, und zufällig kreuzten sich mit einem von ihnen mein Blick: Ha! Das war ja mein ASICS Frontrunner Kollegen Moritz! Ich wusste, dass er da war und hatte ihn auch bei der Eröffnungsfeier getroffen, aber an dieser Stelle hatte ich natürlich nicht mit ihm gerechnet. Ein kurzes Gespräch – „Wie geht’s dir?“ – „Sch….!!! Aber ich kämpf mich durch!“ „Genau, nur langsam weiter, das wird schon.“ Mit meiner Aussage, dass ich mich durchkämpfen würde, hatte ich mich offensichtlich selbst verpflichtet. Wenn ich das da so großspurig kundgebe, kann ich ja nicht kneifen, sondern muss wirklich weiter. Ein bisschen mich ausschimpfen zu können, tat zu diesem Zeitpunkt auch gut, es ging danach tatsächlich etwas leichter. Kurz danach lief eine lettische Teilnehmerin auf mich auf. Das war dann – es war nicht persönlich gemeint – meine Gegnerin. Überholen lassen wollte ich mich nicht! Teilweise liefen wir gemeinsam, wenn es aber ging, versuchte ich mich doch ein wenig nach vorne abzusetzen. Einen ziemlich angeschlagenen Griechen trafen wir auch noch. Den versuchte ich zum weiterlaufen zu motivieren. Ihn aufgeben zu sehen tat mir doch leid. Er schaffte es auch noch ins Ziel, aber sehr langsam, und ich konnte die beiden irgendwann hinter mir lassen. Es ist natürlich nicht fein, sich an den Schwächsten zu messen und sich zu freuen, dass es einem selbst doch noch ein kleines bisschen weniger schlecht geht, aber es ist ja doch immer noch ein Wettkampf, und da geht es eben doch darum, vor ein paar anderen im Ziel zu sein, sonst könnte man es ja gleich sein lassen. Zumindest diese Duelle „Not gegen Elend“ waren für mich ein kleiner Ansporn. Am Laufen an sich konnte ich mich nämlich nicht erfreuen. Die Strecke war für mich endlos, und leider nicht einmal schön. Ich hatte ja mit einer „Wanderung“ gerechnet: zwar langsam, aber doch „irgendwie nett“ und schön, das war es leider nicht. Da die Strecke vielfach durch Wälder und auf den Rückseiten der den See umgebenen Berge verläuft, war wenig zu sehen. Panorama gab es nur wenn man zu den Orten am See kam, also bei Rav 2 und Rav 3. Genusslauf im Sinne von langsam, aber nett, war es also nicht.

Als ich mich Rav 3 näherte begann ich zu rechnen. Noch irgendwas im Bereich 15 bis 18 Kilometer (die Angaben waren ja nicht ganz exakt). Das muss ja gehen! Und die zwei größeren Berge habe ich auch geschafft! Jetzt schaffe ich es auch bis ins Ziel. Winfried war wieder ganz allein in der Halle. Immerhin würde auch er es bald überstanden haben. Dass ich weitermachen würde, schien ihm klar zu sein. Er startete schon eine Hochrechnung: „Noch 15 Kilometer, das müsste dann gemäß den Zeiten anderer Teilnehmer für dich ca. drei Stunden sein.“ Neeeeiiiiiiiiiin! Sag das doch nicht!! 15 Kilometer klingt ja ganz gut, aber die drei Stunden will ich nicht hören!! Egal, es ist ja leider so, also weiter. Nur noch einer, der Mont Baron mit 1270 m. Die Namen der Berge habe ich übrigens alle aus Nachberichten. Für mich waren sie vor Ort nur: „Berg 1 (groß)“, „Berg 2 (klein)“, „Berg 3 (groß, steil)“ und „Berg 4 (klein, steil)“. Wie es sein konnte, dass man für das letzte Stück, das eben nur einen kleinen Berg beinhaltete und auch am Streckenplan nicht besonders anspruchsvoll ausgesehen hatte, war mir ein Rätsel, aber darüber viel zu grübeln war ohnehin unnötig. Wie lange es dauert, so lang dauert es eben. Es wurde aber bald klarer. Mir schien es, als würden wir den Berg mehrfach umrunden. Der Boden wurde auch sumpfig und der Berg war insofern hinterlistig, als es Vorgipfeln, Vor-vor-Gipfeln, Fast-schon-Gipfeln und Ähnliches gab. Hier waren die frischen Staffelläufer auf ihrer Schlussetappe sehr unangenehm. Das waren nicht mehr die Ultratrail-Experten, die am sich Vormittag souverän an uns lahmen Enten vorbeigeschlängelt hatten und auch nicht die etwas weniger flinken Mitstreiter auf der Langen Strecke, die ja auch im selben Boot saßen und Rücksicht nahmen, sondern pseudowichtige 20-Kilometer-Helden, die ihren Staffelkollegen von Teil 1 bis 3 zeigen wollte, was sie drauf hatten. Der kleinste der Berge war oben recht felsig – von dort kamen die vielen schönen Photos, die das Veranstaltungsgelände in Annecy zierten. Ein Paradies für kraxelfreudige Kinder. Mir war es egal, ich wollte nur weiter. Nur leider waren dort auch zahlreiche Photographen plaziert. Klar, wo, wenn nicht dort? Ich versuchte ihnen irgendwie zu entkommen, mein Leiden sollte nicht zu viel dokumentiert werden. Einfach war es nicht, wegdrehen und wegschauen funktioniert nur bedingt, wenn sie auf beiden Seiten des Wegs lauern. Endlich ging es auch von diesem Berg bergab. Dass das wieder nicht leicht sein würde, war mir klar. Vor allem war mir klar, dass ich innerhalb recht weniger Kilometer viele Meter bergab machen müsste. Das war keine tolle Aussicht! Es ging wirklich recht beschwerlich hinunter. Der Boden war hier zwar trocken, aber es gab viel Stufen über hohe Steine oder Wurzeln. Die Staffelläufer ließen sich mit vollem Schwung hinunter, ich arbeitete mich eher ängstlich, immer in Sorge niedergemäht zu werden oder über einen Stein oder eine Wurzel zu stolpern, voran.

Irgendwann erschienen Häuser durch den Wald und das Ziel kam auch in Hörweite. Es schien, als würde gerade die Siegerehrung beginnen, ich hörte Medaillenrangverkündungen. Was ich da, immer noch aus der Ferne, vernehmen konnte, stimmte mich etwas bitter. Ein Großteil der Medaillen – alle Einzel- und Teamgoldmedaillen, sowie eine Silber- und Bronzemedaille gingen an Frankreich. Angesichts der Organisationsqualität dieser Weltmeisterschaft wenig überraschend. Als Veranstalternation liegt da wohl doch ein Heimvorteil vor, die ganzen Schwierigkeiten, denen von ferner angereiste Teams ausgesetzt waren (wie Quartier, Transfers) mussten sie wohl nicht durchmachen.

Mein Weg war jedoch nicht zu Ende. Ich hatte noch einige Kilometer und Höhenmeter zurückzulegen. Irgendwann öffnete sich der Wald jedoch, der Waldweg ging in einen kurzen Schotterweg durch eine Einfamilienhaussiedlung durch, und dann kann war ich schon auf der am See entlangführenden Straße. Jetzt waren es nur mehr ca. zwei Kilometer bis ins Ziel! Ich tat mein Möglichstes, um alles verbleibenden Kräfte zu mobilisieren. Allerdings konnte ich die Beine kam mehr heben und schlich nur mehr dahin. Bei meinem „Endspurt“ schaute ich auf die Uhr, was die Pace-Anzeige denn so wäre: 6:58 war mein Schnitt, das war ziemlich matt. Es ging eine Strandpromenade entlang, viele Leute waren unterwegs, teilweise wurde immer noch angefeuert. Auf dem Schlussstück waren wieder Photographen, auch Winfried stand dort, ich wollte aber weder jemanden sehen noch gesehen werden. Zunächst ging es außen am „Maxi Village“, dem Veranstaltungsbereich entlang, am Ende bog die Strecke ins Village ein und an der Seeseite ging es noch einmal ein Stück zurück bis ins Ziel, bis ich endlich durch war, immer bemüht keinen Photographen anzuschauen. Freude war keine dabei, als ich endlich im Ziel war – nach 16:13:24, Rang 79, eine der letzten FinisherInnen (bei einer hohen Zahl von DNFs).

Im Ziel wollte ich mich zunächst nur fallen lassen, doch Sanitäter wollten mir gleich erste Hilfe leisten. War es für sie so überraschend, dass jemand nur erschöpft, aber sonst OK war? Um ihnen nicht zu sehr Sorge zu bereiten, bewegte ich mich also ohne fremde Hilfe weiter und ließ mich ein Stück hinter dem Ziel am Ufer nieder. Auch dort war jedoch noch keine Ruhe. Da kam ich wieder auf die brennende Frage des halben Tages zurück: In den See oder nicht in den See? Ich entschied mich dafür, einige Meter hineinzugehen, um meine Beine abzukühlen und gleichzeitig der lärmenden Masse zu entkommen. Ein Meter tief im Wasser war es schon ruhiger und ideal, um ein wenig zur Ruhe zu kommen. Es tat Kopf und Beinen gut, irgendwann musste ich aber doch wieder raus, da das Wasser doch eher kalt war. Den diversen Helfern war inzwischen klar geworden, dass ich Hilfe weder wollte noch benötigen würde und sie ließen mich mehr oder weniger ziehen. Winfried tauchte auf, verhielt sich aber – zu seinem und meinem Glück – unauffällig und half mir vorerst nur, die (recht gut versteckte) Dusche zu finden, denn duschen war das einzige, das ich zu dem Zeitpunkt wirklich wollte. In der Dusche kamen bald noch eine Lettin und zwei Französinnen dazu. Es war sofort klar, wer an welchem Bewerb teilgenommen hatte: In der Zeit, in der die Lettin ihre Socken auszog, waren die Französinnen schon geduscht und wieder angezogen. Wahrscheinlich war es sogar die Athletin, mit der ich ein Stück gemeinsam gelaufen war, ich konnte mich an keine Details erinnern. Auf der Strecke achtete ich vor allem auf den Boden. Irgendwie brachte es mich doch zum Lächeln, dass nicht nur ich so kaputt war. Nach der Dusche half mir Winfried noch, zu meinem „Finishershirt“ zu kommen. Dieses erwies sich als ordentlich dicker Kapuzenpullover – da der Abend mit der Zeit sehr kühl wurde, sehr nützlich! Inzwischen habe ich mich mit dem Teil auch schon angefreundet und sehe als eine Trophäe für mein Kämpfen. Irgendwann sollte ich mich doch auch beim Rest des Teams melden, der sich in Halle, in der am Donnerstag die Pasta Party stattgefunden hatte, aufhielt. Der johlende Beifall bei meiner Ankunft schreckte mich allerdings wieder ab, so drehte ich um und setzte mich hinter die aufgestapelten Mineralwasser-Sixpacks neben dem Halleneingang. Später schaffte ich es doch noch, unter Menschen zu gehen, es gab auch etwas zu essen, dann hoffte ich, dass es bald wieder ins Quartier zurückgehen würde. Wie aber schon bisher bei dieser WM, so ging auch dieser Abend ging ähnlich weiter: 22:00 Rückfahrt hieß es, nach einem so langen Tag nicht gerade toll, aber so war es eben von der Organisation vorgesehen. Wo Busse fahren würden, wusste auch keiner, Winfried und ich irrten also noch länger herum, bis wir endlich ins Hotel fahren konnten – irgendwann nach 22:00 ging es erst von Annecy weg.

Das war‘s also von der Ultra Trail WM in Annecy, ein Erlebnis, wie ich es nicht unbedingt wieder brauche.
hippocampus abdominalis

Offline Gaelle1220

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2015-05-30 2015 Ultra Trail World Championship - cbendl
« Antwort #2 am: 11.09.2015, 21:40:12 »
spannend. Danke für den realistischen Bericht ohne Verschönerung. gefällt mir.

Offline SandrinaIlles

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2015-05-30 2015 Ultra Trail World Championship - cbendl
« Antwort #3 am: 11.09.2015, 23:12:56 »
Spannender Bericht, Danke dafür. Schade, dass alles in allem so durchwachsen war.
Soweit ich mit eigenen Erfahrungen aufwarten kann: Ich schau so weit irgend möglich, mich nicht selbst für ein Team verpflichtet zu fühlen und auch möglichst die organisatorischen Rahmenbedingungen betreffend "mein Ding" durchzuziehen - denn Deine Erfahrungen sind ja echt frustrierend :(
Bei der ORganisation der Veranstaltung scheint überhaupt nicht auf Sportlerbedürfnisse eingegangen worden zu sein. Das macht viel kaputt, wenn man drauf angewiesen ist, selbst wenn sonst alles eigentlich gepasst hätte. Aber das ist ja nicht Dein Fehler.
Unter diesen Bedingungen einfach nur durchzuhalten und es (hoffentlich gesund!) ins Ziel zu schaffen, ist eine beachtliche körperliche, aber vor allem mentale Leistung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich das geschafft hätte (hab zwar keine Ultraläufe gemacht, aber etwa den EMBRUNMAN, viele Erzählungen zur Organisation haben mich an die "französischen Details" dort erinnert :D Im Gegensatz zu Dir konnte ich mich Dank vieler - lustiger - Berichte im Vorfeld mental sehr gut darauf einstellen!).
Ich hab mir schon öfters gedacht, dass meine "Eigenheiten" in der Wettkampfvorbereitung vielleicht nicht besonders gesellig anmuten, aber Deine Erzählung hat mich doch wieder darin bestätigt :)
Mögen die zukünftigen Bewerbe freudiger für Dich werden - und trotz alledem, das Erlebnis nimmt Dir keiner mehr, die vor allem mentale Leistung bleibt! Kannst stolz drauf sein!
Sportbiomechanik, Training und Laufanalysen
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Offline Barbara

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2015-05-30 2015 Ultra Trail World Championship - cbendl
« Antwort #4 am: 12.09.2015, 08:47:36 »
Danke für den Bericht und für's Mitleiden dürfen. Dein Durchhaltevermögen ist sehr beeindruckend. Und  - wenn auch im negativen Sinn - beeindruckend ist, wie mies eine Organisation bei so einem Lauf sein kann. Dein "Finishershirt" würde ich gerne sehen. Vielleicht bei den Forumsmeisterschaften ;-)?

Offline uschi61

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« Antwort #5 am: 14.09.2015, 21:42:47 »
danke für den super ausführlichen bericht - mitleiden ist angesagt, so genau wie du alles beschreibst. deine mentale leistung ist ein wahnsinn - du kannst trotz allem sehr stolz auf dich sein. und für die miserable orga kannst du ja wirklich nichts, aber sie hat für zusätzliche belastungen gesorgt - gar nicht fein :-(. gratuliere zum finishen und dem schönen finisher-shirt ;-).
Lebe deine Träume!

 

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